Christian Lindner (Mitte) und Rainer Dulger (rechts) auf dem Weg zu ihren Statements im Bundestag
analyse

Wirtschaftsgipfel in Berlin Dem Kanzler die Show gestohlen

Stand: 29.10.2024 20:13 Uhr

"Wer Regierungsverantwortung übernimmt, der hat auch eine Regierungsverpflichtung", mahnte Arbeitgeberpräsident Dulger beim Wirtschaftstreffen der FDP. Doch auch das andere, im Kanzleramt, verdeutlichte grundlegende Probleme.

Von Lothar Lenz, ARD-Hauptstadtstudio

"Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen." Mit diesem berühmt gewordenen Satz ließ Bertolt Brecht sein Theaterstück "Der gute Mensch von Sezuan" enden - den Schluss der Handlung sollte sich der geneigte Zuschauer bitte selbst ausdenken. Rund 85 Jahre ist das her. Aber auch heute passte das Brecht-Zitat ziemlich präzise auf ein Theaterstück ganz anderer Art.

Matthias Deiß, ARD Berlin, zur Stimmung in Ampel und Wirtschaft

tagesthemen, 29.10.2024 21:35 Uhr

Die Berliner Ampelkoalition führte es im Regierungsviertel auf - auf zwei getrennten Bühnen, mit unterschiedlichen Akteuren. Nur die verhandelte Fragestellung war exakt dieselbe: Wie kann man der Wirtschaft helfen, im zweiten Jahr der Rezession wieder auf die Beine zu kommen? Die Zuschauerinnen und Zuschauer der Doppel-Aufführung aber staunten und durften sich am Ende fragen, was der Sinn der ganzen Veranstaltung war - und wen die Inszenierung weitergebracht hat.

Lange Liste, kurze Diskussion

11 Uhr, Reichstagsgebäude: Die FDP-Fraktion empfängt Vertreterinnen und Vertreter der Industrie- und Handelskammern, des Handwerks, der Arbeitgeberverbände, der Familienunternehmen und der Freien Berufe. Man spricht über Energiekosten, die Steuerbelastung der Betriebe, den Fachkräftemangel, die steigende Last der Sozialabgaben. Schon nach einer guten Stunde tritt die Runde vor Kameras und Mikrofone - wirklich erschöpfend kann die Wunschliste, die die Wirtschaft an die Bundespolitik hat, also nicht diskutiert worden sein.

Und so wirken auch die Abschluss-Statements aller Seiten wie vorbereitet - die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen müsse verbessert werden, die Standortbedingungen ebenfalls. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger zumindest schickt mahnende Worte an alle, die schon das vorzeitige Ende der Ampelkoalition am Horizont sehen: "Wer Regierungsverantwortung übernimmt, der hat auch eine Regierungsverpflichtung."

Christian Lindner, dem FDP-Chef und Bundesfinanzminister, scheint das zu gefallen - er übernimmt das Zitat wortgleich in sein eigenes Statement, spricht erneut vom "Herbst der Entscheidungen" - ohne näher zu sagen, welche Entscheidung er damit meint. Fazit des Treffens: Man hat sich gegenseitig zugehört, das ist ja auch schon was. Und, vielleicht noch wichtiger: Man hat der Folgeveranstaltung des Bundeskanzlers gehörig die Schau gestohlen.

 

Unmut der Autobranche

16 Uhr, Bundeskanzleramt: In ihren Limousinen fahren die Chefs der großen deutschen Autohersteller vor, außerdem Stahlbosse, der Bundesverband der deutschen Industrie und Spitzenvertreterinnen und -vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Einzelgewerkschaften IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie. Es brennt unterm Dach von Volkswagen, das haben die dramatischen Ankündigungen des Betriebsrats von bevorstehenden Werksschließungen und vom -zigtausendfachen Arbeitsplatzabbau endgültig deutlich gemacht.

Aber auch andere deutsche Autohersteller leiden unter Umsatzproblemen und Überkapazitäten, hohen Energiekosten, und nicht unter zuletzt der wachsenden chinesischen Konkurrenz. Nicht alle Probleme hat dabei die Politik zu verantworten - gerade im Fall von Volkswagen bemängeln Kritikerinnen und Kritiker seit Jahren gravierende Management-Fehler. Aber die Politik, so sieht es die Branche, hat die Probleme eben noch verschärft. Die Strompreise sind -auch wegen der Transformationskosten - vergleichsweise hoch in Deutschland, die Kaufanreize für Elektroautos wegen Geldmangels gestrichen; das Ladesäulen-Netz noch immer lückenhaft.

Der Umstieg auf Elektromobilität geht weit schleppender, als die Bundesregierung gehofft hatte. Auch die Chemiebranche macht mit Produktionsverlagerungen von sich reden, zum Beispiel von Deutschland in die USA, und ein nicht geringer Teil der Unternehmen kalkuliert längst, ob die Standortnachteile in Deutschland noch aufgefangen werden können.

Es scheint, als sei Scholz seine Rolle des Moderators leid

"Zuhören" wolle der Kanzler seinen Gesprächspartnern, hatte Olaf Scholz vorab mitteilen lassen - ein wenig verklausuliertes Eingeständnis der Tatsache, dass tragfähige Zusagen von diesem Spitzentreffen sicher nicht zu erwarten waren. Wie auch, wenn weder der Bundesfinanzminister noch der Bundeswirtschaftsminister mit am Tisch saßen? Nicht mal eine Teilnehmerliste der Gesprächsrunde wollte das Kanzleramt veröffentlichen, schon gar nicht war nach dem Treffen eine Pressekonferenz anberaumt. Es scheint, als sei Scholz auch die Rolle des Moderators zwischen seinen Kabinetts-Antipoden Habeck und Lindner zunehmend leid.

Nun mag es sein, dass ein Spitzengespräch im Obergeschoss des Kanzleramts zu den wiederkehrenden Routinen eines Regierungschefs gehört - in der gegenwärtigen Lage aber, in der das Publikum eine klare Ansage des Regierungschefs und Ampel-Regisseurs erwartet, hinterlässt das Treffen eher Rätselraten - nicht nur bei Journalistinnen und Journalisten im Regierungsviertel.

Entsprechend kritisch fielen, natürlich, auch die Reaktionen der Opposition aus: Als "Kindergarten" hatte CDU-Chef Friedrich Merz die beiden getrennten Spitzengespräche zur Wirtschaftspolitik im Vorhinein abqualifiziert. Sein Parteifreund, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst, setzte nach: Wenn die Ampel schon nicht zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik finde, dann möge sie doch bitte einen Schlussstrich ziehen und anderen das Regieren überlassen.

Nächste Hürde: Bundeshaushalt

Handwerk, Handelskammern, Mittelstand - auch sie mahnten fast unisono ein gemeinsames wirtschaftliches Konzept an. Doch wie weit die Koalitionäre auseinanderliegen in ihren Vorstellungen, das wurde in den letzten Tagen deutlich, als der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck eine staatliche Investitionsprämie ins Gespräch brachte, ohne seinen Vorschlag vorher mit Scholz oder Lindner abzustimmen. Postwendend zerriss Lindner Habecks Idee in der Luft, brandmarkte den Vorschlag als "Hammer", unfinanzierbar und zudem einen Verstoß gegen geltende EU-Vorschriften. 

So verwirrend deshalb auf viele heute die Berliner Wirtschafts-Doppel-Inszenierung gewirkt haben mag - das Stück hat möglicherweise noch eine Fortsetzung: Schon im November, bei den abschließenden Beratungen zum Bundeshaushalt 2025, wird sich weisen, wie viel Kompromissbereitschaft die Ampel überhaupt noch aufbringt. Noch immer klafft eine Milliardenlücke im Haushalt.

Sie wäre zu schließen, doch weitere Mittel für Maßnahmen, die die Wirtschaft entlasten - zum Beispiel eine Senkung der Netzentgelte, die die Stromrechnung für Unternehmen senken könnte - sind beim besten Willen nicht vorhanden ohne einen rigiden Sparkurs an anderer Stelle. Und eine Zustimmung etwa der FDP zum Rentenpaket II des SPD-Sozialministers - stabiles Rentenniveau, dafür aber steigende Staatszuschüsse und Rentenbeiträge der Arbeitnehmenden - liegt wohl ebenso noch in weiter Ferne.

Noch hält die Ampel zusammen. Und alle drei Parteien würden, folgt man den Umfragen, bei einer vorgezogenen Bundestagwahl deutlich an Prozenten und Mandaten verlieren. Sollten die Koalitionäre demnächst trotzdem jeden Willen zum gemeinsamen Agieren auf der Bühne der Bundespolitik verlieren, dann wird man sich wohl erinnern an diese rätselhafte Doppel-Inszenierung der letzten Oktobertage.

Lothar Lenz, ARD Berlin, tagesschau, 29.10.2024 13:00 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 29. Oktober 2024 um 20:00 Uhr.