Angriffe auf Saporischschja "Der Luftalarm ist fast zur Routine geworden"
Im Krankenhaus von Saporischschja zeigt sich die Realität des Krieges. Viele Ärzte und Soldaten kommen aus den von Russland besetzten Gebieten. Während die einen noch auf einen Sieg der Ukraine hoffen, sind andere desillusioniert.
Wer es in das Militärkrankenhaus von Saporischschja geschafft hat, wird in den allermeisten Fällen überleben, sagt Serhij Palka zufrieden. Trotzdem versucht der Klinikdirektor, die Soldaten, die hier behandelt werden, in den verschiedenen Gebäuden auf dem Gelände zu verteilen. Zu groß ist die Angst vor einem russischen Raketen- oder Gleitbombenangriff - obwohl der gezielte Beschuss von medizinischen Einrichtungen gegen die Genfer Konventionen verstößt.
Die südostukrainische Großstadt Saporischschja wird täglich angegriffen. Vor allem gegen die mit kleinen Flügeln versehenen Gleitbomben gibt es kaum Schutz. Denn wenn Luftalarm ausgelöst wird, haben die Menschen in Saporischschja oft nur wenige Minuten Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Auch auf der Intensivstation des Militärkrankenhauses ist das dumpfe Wummern der Einschläge immer wieder zu hören.
Karte der Ukraine und Russlands, hell schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Weitreichende Waffen für die Verteidigung
Auch deshalb warb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seinen Besuchen in London, Paris und Berlin für den Einsatz weitreichender Waffen gegen militärische Ziele in der Tiefe Russlands. Wenn es der Ukraine gelingt, Militärflugplätze samt Bombern zu zerstören, so Plan und Hoffnung Selenskyjs, müssen die Menschen in seinem Land weniger Angriffe befürchten.
Aber die westlichen Partner wollen die für solche Angriffe benötigte Erlaubnis bisher nicht erteilen - obwohl sie vom Völkerrecht gedeckt wären, argumentieren Experten. Die Ukraine habe keine überzeugenden Argumente für die Freigabe vorgebracht, berichtet die Washington Post mit Bezug auf anonyme Quellen im Weißen Haus. Viele Soldaten und Militärexperten sehen das anders.
"Dagegen kommen wir nicht an"
"Der Luftalarm ist schon fast zur Routine geworden", sagt der Chef-Anästhesist im Militärkrankenhaus von Saporischschja, etwa 25 Kilometer von der Front entfernt. Dmytro ist ein stämmiger 52-Jähriger. Er wirft einen Blick in eines der Zimmer auf der Intensivstation. Es ist leer. Pfleger bereiten in stiller Arbeit die Betten für neue Patienten vor. "So eine Ruhe habe ich seit Kriegsbeginn nicht erlebt", sagt Dmytro und runzelt die Stirn. "Das macht mir fast Angst." Dmytro soll recht behalten.
Währenddessen versucht sich einige Stockwerke weiter oben Wolodymyr von einer schweren Splitterverletzung zu erholen. Im Osten der Ukraine ist er mit einem Kameraden unter russischen Granatenbeschuss geraten. Die Splitter haben im Bauchraum schwere Verletzungen verursacht. Er habe Glück gehabt, murmelt der 31-Jährige. Im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden.
Dann beginnt er zu erzählen. Von den Tausenden russischer Drohnen am Himmel, die ein gläsernes Schlachtfeld schaffen. "Man verlässt sein Versteck und wird sofort in die Luft gejagt", sagt Wolodymyr. Von den Massen russischer Soldaten, die die Positionen der Ukrainer täglich stürmen. "Dagegen kommen wir nicht an."
"Die Russen sind nicht stärker, sie sind nur mehr"
Es ist eine seit Monaten erprobte russische Taktik im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Sie ist genauso erfolgreich wie tödlich für die russischen Infanteristen. "Sie schicken eine kleine Gruppe, wir legen die um und dann schicken sie auf dem genau gleichen Weg eine weitere Gruppe", sagt Wolodymyr. Er schüttelt ungläubig den Kopf. Die Russen erreichen die gegnerischen Stellungen dann, wenn den Ukrainern die Munition ausgeht. So rücken sie Meter für Meter, Dorf für Dorf vor. Hinter ihnen liegen die Ruinen ukrainischer Dörfer und die Leichen der eigenen Kameraden.
Die Taktik ist erfolgreich, weil die ukrainischen Truppen unterlegen sind. Es fehlten Waffen, Feuerkraft und vor allem Drohnen, stöhnt Wolodymyr - und Personal. Aber er ist überzeugt: "Die Russen sind nicht stärker, sie sind nur mehr." Wolodymyr hofft, dass die Ukrainer den Krieg noch gewinnen können. "Wir machen alles was wir können. Aber die Russen haben viel mehr Waffen."
Zweifel an Befreiung besetzter Gebiete
In einem anderen Trakt wartet Serhij auf seine Entlassung. Auf dem Korridor vor seinem Zimmer hängt eine ukrainische Flagge. "Wir gehen durch die Hölle, damit die Hölle nicht zu unseren Familien kommt", hat ein Soldat darauf gekritzelt. In Serhijs Fall aber kam die Hölle zu schnell: Vor mehr als zwei Jahren gelang es den russischen Truppen innerhalb nur weniger Tage, Serhijs Heimatstadt Berdjansk im Süden der Ukraine zu besetzen. Seitdem hat er seine Eltern nicht mehr gesehen.
"Mein Vater hat sich eine ganze Weile geweigert, einen russischen Pass anzunehmen. Dann wurde er in einen Keller verschleppt und bedroht", berichtet Serhij. Etwa anderthalb Jahre habe der Vater auf eine Rückeroberung der ukrainischen Truppen gehofft. Serhij ging als Arzt zur Armee. Wollte einen Beitrag zur Befreiung seiner Heimat leisten. "Heute glaube ich, dass das unmöglich ist. Leider", sagt Serhij leise.
In der Region Saporischschja endete die ukrainische Sommeroffensive 2023 in den Minenfeldern der Russen. Sehr viele Soldaten verloren ihr Leben. Verwundete lagen stundenlang auf dem Schlachtfeld ohne gerettet werden zu können. Serhij ist desillusioniert. "Ich habe mich damit abgefunden, dass ich nie wieder nach Hause zurückkehren kann." Denn unter russischer Herrschaft sei sein Leben in Gefahr, ist Serhij überzeugt. Schon zu Beginn der Besatzung hätten die Russen seinen Nachbarn verschleppt, weil der vor Jahren im Donbass-Krieg auf Seiten der Ukraine gekämpft hatte. Bis heute fehle von ihm jede Spur.
Viele werden wohl nie in ihre Heimat zurückkehren
Was der verletzte Soldat im Militärkrankenhaus so offen ausspricht, ist ein kontroverses Thema in der Ukraine. Eine Mehrheit der Menschen ist laut Umfragen nicht bereit, Territorium gegen einen möglichen Frieden zu tauschen. Viele misstrauen Russland, zumal der Kreml keine Bereitschaft zu ernsthaften Verhandlungen zeige. Und ohne echte Sicherheitsgarantien würde das Nachbarland in wenigen Jahren wieder angreifen, sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer überzeugt.
Doch je länger der Krieg dauert, desto mehr Menschen in der Ukraine müssen sich mit der Tatsache arrangieren, dass sie wohl nie wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Denn vor allem im ostukrainischen Donbass löscht die russische Armee eine Siedlung nach der anderen von der Landkarte. Übrig bleiben die verkohlten Skelette einstiger Wohnhäuser und wenige Hundert Rentner, die bis zuletzt in ihren Kellern ausgeharrt haben.