Ukrainische Soldaten "Wir brauchen eine Pause"
Die Ukraine braucht dringend Zehntausende neue Rekruten. Doch weil die fehlen, müssen die Soldaten an der Front oft jahrelang fast pausenlos kämpfen. Manche fürchten den Zusammenbruch - andere verstecken sich oder fliehen.
In der Region Tschernihiw tragen sie einen gefallenen Soldaten zu Grabe. Gerade einmal 20 Jahre wurde er alt. Getötet etwa 700 Kilometer weiter östlich im ukrainischen Donbass.
Er ist einer von vielen, die täglich in Russlands Angriffskrieg getötet werden. Die ukrainische Armee versucht verbissen, die Linien zu halten. Viele Soldaten sind seit über zwei Jahren fast pausenlos an der Front.
Furcht, vor Überlastung handlungsunfähig zu werden
Oleh kämpft sogar schon seit zehn Jahren. "Meine Kameraden und ich sind müde. Diejenigen, mit denen ich Seite an Seite kämpfe seit Beginn des Angriffskriegs, sind müde. Sie wollen sich ausruhen. Sie wollen nach Hause zu ihren Familien. Sie haben es geschafft zu überleben. Der Krieg bedeutet ständige Lebensgefahr. Wir brauchen Erholung", sagt er.
Oleh fürchtet, vor laut Überlastung handlungsunfähig zu werden, an der Front eine Belastung zu werden. Andere berichten von Nervenzusammenbrüchen. Von Alpträumen und Schreien im Schlaf. Immer mehr verlassen deswegen auch illegal ihre Positionen. Zuletzt sorgte ein junger Soldat für Aufsehen, weil er aus Protest gegen die fehlenden Rotationen sein unerlaubtes Fernbleiben sogar öffentlich gemacht hat.
Die Ukraine kommt nicht an gegen ein massives Personalproblem an der Front. Sie hat es auch nach zweieinhalb Jahren Krieg nicht geschafft, ein gerechtes Mobilisierungs- und Rotationssystem zu entwickeln, kritisiert Oleh: "Wenn es klare Fristen für eine Demobilisierung gibt, wird sich das Personalproblem lösen. Meine Bekannten beobachten das Militär, hören, dass es keine Frist gibt und wollen deshalb nicht zu den Streitkräften. Sie versuchen sich mit allen Mitteln zu entziehen", erklärt er. "Wenn es eine klare Frist gäbe, wüssten sie: Ich gehe, erfülle meine Pflicht und wenn ich überlebe, kehre ich zurück."
Doch zurück kehren zur Zeit oft nur die Toten und Verletzten. Zehntausende sind es mittlerweile. Ebenso viele gelten als vermisst oder sind in russischer Kriegsgefangenschaft. Genaue Zahlen veröffentlicht die Ukraine nicht.
Flucht nach Westen
Doch während Soldatinnen und Soldaten an der Front im Osten des Landes getötet werden, versuchen im Westen unzählige, das Land illegal zu verlassen.
An der grünen Grenze zum Nachbarland Ungarn patrouillieren Vitalii Vasylovych und seine Kollegen. Sie suchen nach Löchern im Zaun oder Fußspuren im Matsch. Nach Wehrfähigen, die versuchen, aus der Ukraine zu fliehen, weil Männer zwischen 18 und 60 Jahren seit Beginn des russischen Angriffskriegs das Land nur in Ausnahmefällen legal verlassen dürfen.
Zehn bis 15 Fluchtversuche jeden Monat zählt Vasylovych an dem knapp über 14 Kilometer langen Grenzabschnitt, den er überwacht: "Manche schreien, manche haben Angst. Manche erstarren. Manche rennen weg und versuchen zu fliehen, manche versuchen sich zu wehren. Die Menschen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Ziele. Manche haben sich wirklich gut vorbereitet. Nicht alle bleiben stehen und warten darauf, festgenommen zu werden."
Korrupte Beamte verdienen Millionen mit dem Schleuser-Geschäft. Wie viele Männer aus der Ukraine geflohen sind, ist nicht bekannt. Wie viele bei dem Versuch festgenommen wurden auch nicht. Die Behörden veröffentlichen keine Statistiken, aus Furcht, diese könne ein negatives Licht auf die Ukraine werfen, sagen die Grenzbeamten.
Ukraine braucht Zehntausende neue Soldaten
Kyrylo will zwar in der Ukraine bleiben, versteckt sich aber vor dem Militär. Zu wenig Waffen und keine Aussicht auf Demobilisierung haben den Mitte-30-Jährigen zum Umdenken bewogen. "Im ersten halben Jahr des Angriffskrieges, habe ich ständig darüber nachgedacht, kämpfen zu gehen", erzählt er. "Aber damals gab es keinen Mangel an Rekruten und Freiwilligen. Mit der Zeit ist mir immer klarer geworden, dass Krieg nichts Romantisches hat. Das ist Schmerz, Blut und Tränen."
Kyrylo heißt eigentlich anders. Er will nicht als Vaterlandsverräter gelten. Und ist es doch für diejenigen, die täglich an der Front ihr Leben riskieren.
Zehntausende neue Soldaten braucht die Ukraine, weil Russland weiter angreift. Aber viele Einberufene sind zu alt, körperlich nicht belastbar und schlecht ausgebildet. Sie überleben oft nur wenige Wochen. Für Kyrylo ist es ein weiterer Grund, sich dem Wehrdienst zu entziehen.
"In diesem Sinne bin ich dafür, das Persönliche vom Kollektiven zu trennen. Für mich geht es nicht um Pflicht, sondern um Wahl. Vielleicht werde ich mich im Zweifel eher für das Gefängnis entscheiden, anstatt zu kämpfen." Denn aus dem Gefängnis könne man herauskommen - aus dem Grab nicht.
"Enttäuscht, dass man uns vergisst"
Kyrylo will eine Familie gründen. Soldat Oleh hat schon eine. In der Hauptstadt unter Zivilisten aber fühlt er sich zunehmend unwohl, meidet große Menschenmassen. Vielen Soldaten geht es ähnlich. Je länger der Krieg dauert, desto weniger Kontakt haben sie mit alten Freunden, die fernab des Krieges ein scheinbar normales Leben führen.
"Es ist wahr, dass die Menschen den Krieg vergessen. Ich kenne das schon aus dem Donbass-Krieg. Es ist jetzt wie damals. Wir Soldaten sind enttäuscht, dass man uns vergisst, besonders wenn wir unsere Kameraden sterben sehen und dann sehen, wie die Menschen hier ein normales Leben führen und sich für nichts interessieren."
Täglich wächst das Fahnenmeer im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt. Jede Fahne steht für einen Getöteten. Und täglich kommen auf den Friedhöfen des Landes neue Soldatengräber hinzu. Nachts greift Russland viele Teile der Ukraine mit Raketen, Bomben und Drohnen an. An der Front hören die Kämpfe nie auf.