Der Papst in Belgien Reformdebatten und ein Geheimtreffen
Bei seinem heute beginnenden Besuch in Belgien trifft Franziskus auf eine kleiner werdende Kirche, die neue Wege sucht und mit Skandalen kämpft. Zum Papst aus Lateinamerika hat das Land eine besondere Verbindung.
Aus Sicht der Gastgeber ist die Visite längst überfällig: Es ist fast 30 Jahre her, dass zuletzt ein Papst Belgien besucht hat. 1995 kam Papst Johannes Paul II. für zwei Tage, um den belgischen Pater Damian seligzusprechen.
Seit Wochen proben Schulklassen für ihre Vorführungen bei der großen Freiluftmesse im Brüsseler Fußballstadion am Sonntag. Die Sicherheitsbehörden haben sich monatelang vorbereitet. Zwar ist Brüssel als Standort von EU und NATO bestens mit der Organisation von Staatsbesuchen vertraut. Aber die Auftritte von Papst Franziskus an verschiedenen Orten inmitten vieler Menschen stellen eine besondere Herausforderung dar. Vor und in den Kirchen sind Rucksäcke, große Taschen, Flaggen und der Einsatz von Drohnen verboten.
Von Missbrauchsskandalen erschüttert
Papst Franziskus trifft in Belgien auf eine Kirche, die wie die deutsche über Reformen diskutiert und von Missbrauchsskandalen erschüttert wird. Laut einem Bericht der belgischen Bischofskonferenz von 2019 haben sich seit 2010 mehr als tausend Missbrauchsopfer gemeldet, überwiegend Männer. Die meisten Übergriffe geschahen in der Schule oder in der Pfarrgemeinde. Opfer bekamen Entschädigungen in Höhe von 2.500 bis 25.000 Euro zugesprochen.
Auch in Belgien sorgt schleppende Aufklärung für Unverständnis und Empörung. So hat der Vatikan erst im Frühjahr den früheren Bischof von Brügge, Roger Vangheluwe, aus dem Priesterstand verstoßen - 14 Jahre, nachdem dieser gestanden hatte, sich jahrelang an seinem Neffen vergangen zu haben. Später räumte Vangheluwe auch den Missbrauch eines zweiten Neffen ein. Belgische Bischöfe hatten Rom lange gedrängt, gegen ihn die höchste Kirchenstrafe zu verhängen.
Treffen mit Opfern
Der Papst wird sich im Rahmen seines Besuches mit 15 Missbrauchsopfern treffen; Ort und Zeitpunkt des Treffens bleiben geheim. Neun Männer und sechs Frauen wurden ausgewählt, um Franziskus ihre Leidensgeschichten zu erzählen. Ihre Erwartungen sind gering: Bei der angesetzten Zeit von einer Stunde blieben pro Person nur vier Minuten, sagt ein Teilnehmer.
Für den ehemaligen Missbrauchsbeauftragten der belgischen Bischofskonferenz, Bischof Johan Bonny aus Antwerpen, ist diese Zusammenkunft "symbolisch und emotional" der vielleicht wichtigste Moment der gesamten Visite: "Für die Kirche und die Gesellschaft ist es so wichtig, dass dieses Gespräch gut verläuft", sagt Bonny.
Im vergangenen Jahr schlug die Fernsehdokumentation "Godvergeten", in der Betroffene berichteten, hohe Wellen. Wohl auch deshalb kehren in Belgien viele der Kirche den Rücken: Exakt die Hälfte der Bevölkerung bekennt sich zum katholischen Glauben, aber die Zahl von Taufen, Firmungen und Kommunionen sinkt; es gehen weniger Menschen in die Kirche als vor der Corona-Pandemie. Anders als in Deutschland kann in Belgien der Austritt nicht formal erklärt werden. Stattdessen wird im Taufregister vermerkt, wenn jemand die Kirche verlässt.
Belgische Universitäten mit Strahlkraft
Am Freitag und Samstag besucht Franziskus die katholischen Universitäten in Löwen und Louvain-la-Neuve, die demnächst das 600. Jahr ihres gemeinsamen Bestehens feiern. Die Universität wurde Ende der 1960er-Jahre als Folge des Sprachenstreits zwischen niederländisch sprechenden Flamen und französisch sprechenden Wallonen geteilt.
Um diese Zeit herum entwickelte sich Belgiens älteste und größte Universität zu einem intellektuellen Leuchtturm in den Reformdebatten des Zweiten Vatikanischen Konzils und zu einer Hochburg der Befreiungstheologie.
Diese war in Lateinamerika entstanden mit dem Ziel, Unterdrückung, Ausbeutung und Entrechtung zu bekämpfen. Ihr Namensgeber, Gustavo Gutierrez, und berühmte Vertreter wie die Gebrüder Boff studierten in Löwen. Papst Franziskus, der aus Argentinien stammt, hat Gutierrez' Arbeit ausdrücklich gewürdigt.
Seine Vorgänger sahen die Befreiungstheologie kritisch und gingen gegen deren Vordenker vor: Vor 40 Jahren verurteilte der Vatikan Strömungen, die sich an marxistischen Vorstellungen orientieren. Das Schreiben stammt vom damaligen Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, der später als Benedikt XVI. Vorgänger von Papst Franziskus wurde.
Für Veränderungen offen
Vor zwei Jahren erlaubten die Bischöfe in Flandern, dem nördlichen Teil Belgiens, die Segnung von Homosexuellen und stellten sich so hinter Pfarrer und Gemeinden, die eine Kirche anstreben, die niemanden ausschließt. Es blieb aber beim Nein zur kirchlichen Heirat von Homosexuellen, um den Unterschied zum Sakrament der Ehe deutlich zu machen. Ein gutes Jahr später ermöglichte der Vatikan in einer Erklärung die Segnung homosexueller Paare.
Auch bei der im Oktober in Rom stattfindenden Weltsynode, die neue Entscheidungswege für die Kirche diskutiert, wollen Belgiens Bischöfe Reformen ermöglichen. Sie plädieren dafür, bestimmte Entscheidungen nicht für alle Länder und Regionen zu treffen, sondern den Landeskirchen zu überlassen.
So sollte es nicht allgemein verboten sein, verheiratete Männer zu Priestern oder Frauen zu Diakoninnen zu weihen. Im Vorfeld der Weltsynode hatten Gläubige in Belgien eine stärkere Rolle von Frauen in der Kirche verlangt. Besonders für junge Leute ist deren Ungleichbehandlung ein Grund, sich von der Kirche abzuwenden.
Auftakt in Luxemburg
Am Samstag trifft Franziskus Kirchenvertreter in der Nationalbasilika auf dem Brüsseler Koekelberg, die zu den größten Kirchen der Welt zählt. Den Abschluss und für viele Gläubige wohl den Höhepunkt des Besuchs bildet die Freiluftmesse am Sonntag im Brüsseler König-Baudouin-Stadion. Die kostenlosen Karten für das Ereignis, zu dem etwa 35.000 Besucherinnen und Besucher erwartet werden, waren innerhalb von eineinhalb Stunden vergriffen.
Zum Auftakt seiner Reise besucht Franziskus Luxemburg, wo keine Gottesdienste geplant sind. Dort wird der Papst der Stadt die päpstliche Auszeichnung Goldene Rose verleihen.