Katholische Missbrauchsstudie "Spitze des Eisbergs"
Um Ausmaß und Ursachen der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aufzuarbeiten, gab die katholische Kirche vor fünf Jahren eine wissenschaftliche Studie in Auftrag. Abgeschlossen ist der Prozess damit nicht.
Herbstvollversammlung der deutschen Bischöfe in Fulda 2018: Die Bischofskonferenz war für die Pressekonferenz extra in einen größeren Saal ausgewichen. Die Präsentation der Untersuchung über "Sexuellen Missbrauch an Minderjährigen" in der katholischen Kirche erregte weit über Deutschland hinaus Aufmerksamkeit. Und Kardinal Reinhard Marx, damals Vorsitzender der Bischofskonferenz, war überzeugt: "Das ist ein wichtiger Tag für die katholische Kirche in Deutschland."
1.670 potenzielle Täter
Die Forschenden hatten 38.000 Personalakten von Klerikern überprüft, von 1946 bis 2014. Sie identifizierten 3.677 Kinder und Jugendliche, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren und 1.670 potenzielle Täter - Priester, Diakone, Ordensangehörige.
Marx bat damals die Betroffenen "für alles Versagen und für allen Schmerz" um Entschuldigung. "Und ich tue es auch ganz persönlich." Ein Blick in den Abgrund - vor allem, da es sich bei diesem Befund nur um die "Spitze des Eisbergs" handele, so die Forscher.
"Ehrliche Aufarbeitung"?
"Wir sind nach wie vor immer noch bei der Spitze des Eisbergs", sagt Harald Dreßing fünf Jahre später. Der Psychiater hat die Untersuchung mehrerer Institute damals koordiniert und deutlich gemacht, dass die ermittelten Zahlen keinesfalls ein vollständiges Bild liefern. Das "Dunkelfeld" müsste ausgeleuchtet werden. Das sei umständlich, da man dafür aufwendige Umfragen durchführen müsse. Weder Politik noch Kirche hätten das bis heute veranlasst.
Dreßing fordert außerdem eine "Wahrheitskommission", eine unabhängige Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in der katholischen Kirche. Die findet aktuell in Aufarbeitungskommissionen in den Diözesen statt. "Ehrliche Aufarbeitung" müsse "in unabhängige Hände" gegeben werden. Doch davon sei die katholische Kirche immer noch entfernt.
"Man glaubt, das in eigener Regie machen zu müssen", so Dreßing. "Und das führt letztendlich dazu, dass da immer mehr Vertrauen und Glaubwürdigkeit verspielt wird. Zumindest nach meinem Eindruck, und das höre ich auch von vielen Betroffenen."
Mehr Rechte für Betroffene
Die Bilanz der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, fällt weniger kritisch aus. Sie bezeichnet die Studie als "Meilenstein", da sie "erstmals für einen Ausschnitt Zahlen geliefert" habe. Claus attestiert der katholischen Kirche, dass es heute mehr Qualität im Bereich der Präventionsordnungen gebe. Die Studie habe dazu geführt, dass sexualisierte Gewalt nicht mehr negiert werde.
Handlungsbedarf sieht Claus vor allem bei den Rechten von Betroffenen. Die sollten Akteneinsicht erhalten. Die Kirche müsse sich "mehr in die Karten schauen lassen", wenn es um Aufarbeitung geht.
Johannes Norpoth, der Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz, findet, es sei "eine ganze Menge passiert" in den vergangen fünf Jahren. An einem Punkt müsse die Bischofskonferenz aber nachbessern: "Nämlich bei der Frage der Anerkennung des Leids." Hier sei noch deutlich mehr zu tun.
Erstmals ein Kardinal im Fokus
Die Kirche orientiert sich bei der Entschädigung an staatlichen Schmerzensgeldtabellen. Das können zwischen 5.000 und 50.000 Euro sein. Ein Gericht hatte kürzlich einem Betroffenen 300.000 Euro zugesprochen. Das heißt: Die katholische Kirche muss wohl ihre Leistungen nach oben anpassen.
Norpoth ist überzeugt: Die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt wird die katholische Kirche noch lange beschäftigen. Denn je mehr Betroffene sich melden, desto klarer werde das Bild. "Und da sind wir eigentlich erst am Anfang, nicht am Ende. Deshalb dauert das noch viele Jahre."
Kurz bevor sich die deutschen Bischöfe ab heute in Wiesbaden zur ihrer Herbsttagung treffen, wurde bekannt: Erstmals gilt auch ein Kardinal als mutmaßlicher Täter. Dem 1991 gestorbenen Bischof Franz Hengsbach wird sexualisierte Gewalt gegen eine 16-Jährige vorgeworfen. Außerdem wird er eines weiteren Übergriffs auf eine Frau beschuldigt. Ein Teil der Vorwürfe war intern schon lange bekannt.