Katholische Kirche Erstmals Missbrauchsvorwürfe gegen deutschen Kardinal
Es ist ein Paukenschlag über die Grenzen des Bistums Essen hinaus: Gegen den verstorbenen und bis heute populären Kardinal Hengsbach gibt es Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs. Es ist der erste Verdacht gegen einen deutschen Kardinal.
Einer der prominentesten Kirchenmänner der deutschen Nachkriegsgeschichte steht unter Missbrauchsverdacht: Dem 1991 verstorbenen Kardinal Franz Hengsbach werden sexuelle Übergriffe gegen Minderjährige in den 1950er- und 1960er-Jahren vorgeworfen. Der bis heute populäre Gründerbischof des Bistums Essen hatte sich über drei Jahrzehnte vor allem als Anwalt der Bergleute im Ruhrgebiet profiliert.
Bistum: "Gravierende Vorwürfe"
Nachdem inzwischen drei Personen Anschuldigungen gegen ihn erhoben haben, machte das Bistum Essen diese "gravierenden Vorwürfe" nun öffentlich. Zugleich rief es mögliche weitere Betroffene auf, sich zu melden. Der jüngste Vorwurf wurde laut Bistum im Oktober 2022 erhoben. Zwei weitere Anschuldigungen stammen bereits aus dem Jahr 2011. Zur Art der Übergriffe machte das Bistum keine Angaben und begründete dies mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.
Hengsbach ist der erste deutsche Kardinal, der unter Missbrauchsverdacht steht. Vorwürfe richten sich noch gegen zwei weitere deutsche Bischöfe: gegen den aus dem Erzbistum Freiburg stammenden früheren Auslandsbischof Emil Stehle (1926-2017) und den ehemaligen Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen (1907-1988). Hengsbach hatte als erster Bischof das 1958 gegründete Bistum Essen aufgebaut, das aus Teilen der Diözesen Köln, Münster und Paderborn entstand. Er leitete es 33 Jahre lang bis 1991. Zuvor war er Weihbischof in Paderborn gewesen.
Konservativer Kirchenmann als Anwalt der Bergleute
Bei den vielen Zechenschließungen machte sich der konservative Kirchenmann zum Anwalt der Bergleute; Management und Politik drängte er zu sozialen Ausgleichsmaßnahmen. Hengsbach war auch 17 Jahre lang Militärbischof und begründete das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat.
Bistum veranlasste Nachforschungen
Der im vergangenen Herbst den unabhängigen Ansprechpersonen des Bistums Essen gemeldete Vorwurf beziehe sich auf das Jahr 1967, so das Bistum. In der Folge habe der aktuelle Essener Bischof Franz-Josef Overbeck weitere Nachforschungen veranlasst - auch in Hengsbachs Heimatbistum Paderborn. Bei der Sichtung des Paderborner Aktenbestands sei der Essener Interventionsstab auf einen Vermerk gestoßen.
Vatikan stufte Vorwürfe als nicht plausibel ein
Danach wurde Hengsbach 2011 beschuldigt, bereits 1954 in seiner Zeit als Weihbischof eine minderjährige Jugendliche sexuell missbraucht zu haben. Dieser Fall sei vom Vatikan damals als nicht plausibel eingestuft worden. Im Zuge der jüngsten Nachforschungen sei der Vorwurf noch einmal geprüft und als glaubwürdig bewertet worden, teilte das Erzbistum Paderborn mit.
Eine Skulptur des 1991 verstorbenen Bischofs Franz Hengsbach steht vor dem Essener Dom.
16-Jährige von Hengsbach und Bruder missbraucht?
Eine Frau habe angegeben, dass sie 1954 als 16-Jährige von Franz Hengsbach gemeinsam mit dessen Bruder Paul sexuell missbraucht worden sei. Der 2018 verstorbene Bruder, der auch Priester des Erzbistums war, habe die Vorwürfe aber vehement bestritten. Die Beschuldigungen wurden 2011 laut Erzbistum aufgrund der Gesamtumstände damals als nicht plausibel bewertet. Diese Einschätzung müsse aber aus heutiger Perspektive und nach erneuter Prüfung des Personalaktenbestands von Paul Hengsbach "leider deutlich in Frage gestellt werden".
Denn den Akten zufolge habe bereits 2010 eine weitere Frau Missbrauchsvorwürfe gegen ihn erhoben. Zwar sei auch dieser Fall als nicht greifbar eingestuft und Rom nicht vorgelegt worden, hieß es weiter. Doch habe die Betroffene nach einer Beschwerde und nach erneuter Prüfung ihres Falls 2019 Zahlungen der Kirche in Anerkennung des Leids erhalten. Der dritte, ebenfalls 2011 erhobene Vorwurf, sei 2014 auf Initiative der betroffenen Person hin zurückgezogen worden, so das Bistum Essen weiter. Sie habe mitgeteilt, dass die Schilderungen aufgrund verschwommener Erinnerungen falsch gewesen seien. Damit sei der Fall als abgeschlossen betrachtet worden.
Weitere Betroffene mögen sich melden
In Anbetracht des neuen Vorwurfs aus dem vergangenen Jahr und unter Berücksichtigung aller Kenntnisse habe er sich jetzt dazu entschieden, alle Vorwürfe gegen Hengsbach öffentlich zu machen, erklärte Overbeck am Dienstag. Dabei sei ihm bewusst, was dies bei vielen Menschen auslösen werde, die Hengsbach als geschätzten Gründerbischof des Ruhrbistums in Erinnerung haben: "Angesichts der vorliegenden Beschuldigungen ist es mir wichtig, mögliche weitere Betroffene zu ermutigen, sich zu melden."
Selbstkritik des Erzbistums
Das Erzbistum Paderborn zeigte sich selbstkritisch: "Wären die beiden Paul Hengsbach betreffenden Beschuldigungen seinerzeit miteinander verknüpft betrachtet worden, hätte dies möglicherweise zu einer anderen Bewertung der Vorwürfe im Sinne der beiden betroffenen Frauen geführt", heißt es in der Erklärung: "So liegt es aus heutiger Sicht nahe, dass den Frauen nicht nur Unrecht durch die Missbrauchserfahrung durch Diözesanpriester des Erzbistums, sondern auch Leid durch den Umgang mit ihnen und ihren berechtigten Anliegen widerfahren ist."
Betroffene: Kirche verzögerte Aufklärung
Die Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch" warf der katholischen Kirche vor, die Aufklärung zu verzögern. "Wenn es stimmt, dass die ersten Beschuldigungen bereits 2011 erhoben wurden, dann wurde die Öffentlichkeit zwölf Jahre darüber im Unklaren gelassen, um nicht zu sagen hinters Licht geführt", erklärte Sprecher Matthias Katsch. Er appellierte an den Landtag Nordrhein-Westfalens, endlich eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen, um die Vorgänge in den katholischen Bistümern des Landes zu untersuchen: "Oder wollen wir warten, bis die letzten Opfer tot sind?"
Auch Kirchenrechtler Thomas Schüller kritisierte, die katholische Kirche habe in vielen Fällen bekannt gewordene Sexualstraftaten ihrer Kleriker vertuscht. Sollten sich die Vorwürfe gegen Kardinal Hengsbach im weiteren Verlauf erhärten, würde mit dem Kardinal eine Ikone vom Sockel gestürzt, die für ihre gradlinig katholisch-konservative Haltung bekannt und beliebt war, so Schüller weiter.