Krieg in Nahost Ist der Libanon ohne Hisbollah denkbar?
Eigentlich dürfte es die Hisbollah-Miliz gar nicht geben, eine UN-Resolution von 2006 sieht ihre Entwaffnung vor. Doch der libanesische Staat ist schwach und seine Armee auch. Besteht jetzt die Chance für einen Neuanfang im Land?
Vor einer Woche wandte sich Israels Premierminister Benjamin Netanyahu in einer Video-Ansprache an die Libanesen: "Erinnert ihr euch noch als euer Land die 'Perle des Nahen Ostens' genannt wurde?", fragte er. Inzwischen habe die Hisbollah das Land in eine iranische Militärbasis verwandelt. "Steht auf und holt euch euer Land zurück", sagte er.
Tatsächlich dürfte es die Hisbollah in der jetzigen Form gar nicht geben. Die UN-Resolution 1701, die nach dem letzten Libanonkrieg 2006 implementiert wurde, sieht eine Entwaffnung von Milizen wie der Hisbollah vor. Nur noch die libanesische Armee soll das Sagen haben.
Umgesetzt wurde das jedoch nie. Die Armee gilt als schwach. Stattdessen rüstete die schiitische Miliz mit Hilfe des Iran auf. Sie kontrolliert weite Teile im Osten und Süden des Landes. Trotz massiver israelischer Luftangriffe und Bodenoperationen ist sie nach wie vor imstande, Raketen Richtung Israel abzufeuern oder tödliche Drohnen zu senden - so wie vergangenen Samstag.
Libanons Premier will Entwaffnung der Hisbollah
Im Libanon mehren sich nun wieder die Stimmen, die auf die Umsetzung der Resolution 1701 pochen. So kündigte Ende der Woche Libanons Premierminister Najib Mikati - selbst ein Sunnit - an, seine Regierung werde im UN-Sicherheitsrat einen "kompletten und sofortigen Waffenstillstand" einfordern und sich im Gegenzug zur Durchsetzung der Resolution 1701 verpflichten.
Makram Rabah, Hisbollah-Kritiker und Historiker an der American University in Beirut, sieht darin eine Chance: "Ich glaube, die Libanesen werden früher oder später Stellung beziehen und eine politische Übergangsphase einleiten, die eben auch die Schiiten im Land einbezieht und sie beschützt. Aktuell bezahlen sie den Preis der Abenteuer des Iran", sagte er dem ARD-Studio Kairo.
"Je mehr Angriffe, umso größer die Unterstützung"
Drew Mikhael, der für den in Washington ansässigen Thinktank Tahrir Institute for Middle East Policy arbeitet, ist skeptisch: "Je mehr Angriffe es im Land gibt, umso größer wird die Unterstützung für die Hisbollah - und das ist ein Desaster." Netanyahu fordere letztlich dazu auf, zu den Waffen zu greifen. Das sei undemokratisch und letztlich kontraproduktiv.
Auch Merin Abbass, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Beirut, bezweifelt, dass sich die Stimmung im Land grundsätzlich gegen die Hisbollah wendet: "Es werden systematisch Dörfer zerstört. Es gibt die Aufforderung, Gebiete bis zu 60 Kilometer fernab der israelischen Grenze zu räumen. Da sind nicht nur Schiiten, es sind auch nicht nur Hisbollah-Anhänger, sondern es sind auch Christen, Sunniten und Drusen davon betroffen."
Zwar habe die Hisbollah einen gewissen Vertrauensverlust erlitten. Angesichts der israelischen Bodenoffensive im Süden des Landes sähen allerdings immer noch viel Menschen in ihr die einzige Kraft, die das Land verteidigen könne.
Staat nur bedingt handlungsfähig
Die Hisbollah ist zudem ein wichtiger politischer Akteur. Sie sitzt im Parlament und blockiert mit Verbündeten, wie der schiitischen Amal-Partei unter Parlamentspräsident Nabih Berri die Wahl eines neuen Staatspräsidenten. Dieser muss nach der politisch-konfessionellen Machtaufteilung ein Christ sein. Der Posten ist seit zwei Jahren vakant, der Staat deshalb nur bedingt handlungsfähig. Auch deshalb kommt politisch niemand an der Hisbollah vorbei.
Während die Opposition - vor allem christlich geprägte Parteien - nun auf die Wahl eines Staatspräsidenten pochen, der die Resolution 1701 durchsetzen soll, um den Einfluss der Hisbollah und des Iran zurückzudrängen, halten Beobachter eine schnelle Lösung für unrealistisch.
"In der aktuellen Situation muss man immer Schritt für Schritt denken. Es ist sehr schwierig, jetzt an das Endziel zu denken, weil es dazwischen sehr, sehr viele Hindernisse gibt, die zu überwinden sind", meint FES-Leiter Abbass. Einen Waffenstillstand halten viele für den einzigen möglichen nächsten Schritt. "Und hier geht nichts ohne die USA, die Netanyahus Angriffe stoppen müssen", sagt Drew Mikhael.
"Krieg in Gaza ist nicht unser Krieg"
Die USA haben jüngst angekündigt, sich genau darum intensiv zu bemühen. US-Außenminister Antony Blinken betont jedoch immer wieder, dass auch der Libanon selbst seine Hausaufgaben machen müsse, wie etwa bei der Präsidentenwahl.
Bewegung gab es immerhin zuletzt im Hisbollah-Lager: Deren Vize-Generalsekretär Naim Qassem vermied es, einen Waffenstillstand im Libanon mit einer Waffenruhe im Gazastreifen zu verknüpfen. Für FES-Leiter Abbass ist es die Korrektur eines "taktischen Fehlers" der bisherigen Hisbollah-Führung und deren Verbündeten im Iran: "Viele libanesische Abgeordnete sagen: absolute Solidarität mit den Palästinensern, ja. Aber der Krieg in Gaza ist nicht unser Krieg."
Noch zeigten sich die Menschen im Libanon angesichts der israelischen Angriffe solidarisch. Komme es nicht bald zu einem Waffenstillstand, könnten die Spannungen wachsen und neue bürgerkriegsähnliche Zustände drohen, so Abbass.