Ein Jahr nach dem Hamas-Terror Das Dilemma mit der Staatsräson
"Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson", heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel. Doch was bedeutet das ein Jahr nach dem Massaker der Hamas? Einige sehen den Begriff mittlerweile kritisch.
Es ist der 8. Oktober 2023, der Tag nach dem Terrorangriff der Hamas, da wendet sich ein entsetzter Olaf Scholz an die Öffentlichkeit. Vom Berliner Kanzleramt aus verspricht er, Deutschland stehe an der Seite Israels, "fest und unverbrüchlich", denn: "Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson."
Die Staatsräson: Der Begriff wurde schon 2008 geprägt von Scholz' Vorgängerin, Angela Merkel. Als Leitmotiv für deutsche Politik, um der Verantwortung angesichts des Holocaust gerecht zu werden. Eine langfristige Strategie und Selbstverpflichtung, die allerdings keine rechtliche Wirkung hat.
2021 schreiben SPD, Grüne und FDP die "Staatsräson" auch in ihrem Koalitionsvertrag als Leitlinie fest.
Was ist verhältnismäßig?
Bundeskanzler Scholz macht schon direkt nach dem Hamas-Terror klar, was für ihn aus der "Staatsräson" folgt: "Israel hat das Recht, sich gegen diese barbarischen Angriffe zu verteidigen, seine Staatsbürger zu schützen und die Angreifer zu verfolgen."
Doch wie weit darf Israel gehen mit seinem Recht auf Selbstverteidigung? Was ist verhältnismäßig? Und was nicht mehr? Die Nahost-Politik ist für die Bundesregierung im vergangenen Jahr zu einem Balanceakt geworden, der mit jedem Monat schwieriger wird: Je massiver die israelische Armee angreift, erst die Hamas im Gazastreifen, inzwischen auch die Hisbollah im Südlibanon, desto mehr leidet dort die Zivilbevölkerung. In Gaza wurden nach Angaben der Hamas-Gesundheitsbehörde Zehntausende Menschen getötet.
Kritik im In- und Ausland
Aus dem In- und Ausland wächst die Kritik an der Bundesregierung, sie messe mit zweierlei Maß. Fast im Monatsrhythmus reist Außenministerin Annalena Baerbock in die Region - stets mit der Botschaft, dass es für sie kein Entweder-Oder gibt. Baerbock betont, die Sicherheit der Menschen in Israel vor dem Terror der Hamas sei ebenso wichtig wie das Überleben der Palästinenserinnen und Palästinenser: "Beides gehört zusammen."
Weltweit gehen Länder auf Distanz zur israelischen Regierung. Aus Deutschland kommen vor allem allgemeine Appelle, Israel müsse sich bei seiner Kriegsführung ans Völkerrecht halten. Nur vorsichtig lässt die Bundesregierung kritische Positionen durchblicken: dass es Deutschland um die Sicherheit und die Existenz Israels gehe, aber nicht um die Existenz einer bestimmten Regierung dort. Gemeint ist die Regierung Netanyahu.
Das zeigt sich etwa, wenn die Außenministerin hinter verschlossenen Türen deutlicher wird, von einem Treffen mit Premier Benjamin Netanyahu im April 2024 werden laute Wortgefechte überliefert. Baerbock soll Netanyahu vorgeworfen haben, die katastrophale Lage der Palästinenser in Gaza zu ignorieren und nicht genügend Hilfslieferungen zu erlauben.
Im Juni 2024 wird Baerbocks Ton auch öffentlich schärfer: "Wir wollen nicht, dass Israel sich selbst verliert in diesem Krieg", sagt sie auf einer Sicherheitskonferenz in Tel Aviv.
Viele Bemühungen laufen ins Leere
Die deutsche Ministerin prangert "verstörende Berichte" aus dem Gazastreifen an, spricht über Misshandlungen von palästinensischen Gefangenen, kritisiert Gewalt jüdischer Siedler im Westjordanland. Und drängt auf das langfristige Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung - gegen den Widerstand der israelischen Regierung.
Auch klare Worte bewirken allerdings kaum etwas. Die meisten diplomatischen Bemühungen laufen ins Leere. Das zeigt sich im September, als sich die Bundesregierung zusammen mit den USA und anderen Partnern für eine Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah einsetzt - vergeblich. Kurz nach den Gesprächen verstärkt Israel seine Angriffe und tötet Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah.
Auch wenn die Regierungen in Berlin und Washington die Geduld mit dem israelischen Premier Netanyahu verlieren, bis zu einem Stopp von Waffenlieferungen an Israel gehen sie nicht. Als der Iran Anfang Oktober 2024 Israel massiv mit Raketen angreift, macht die Bundesregierung erneut klar, wo sie steht: an der Seite Israels.
Kritik an der "Staatsräson"
Zum Jahrestag des Hamas-Angriffs ist die "Staatsräson" wieder besonders in den Blick gerückt. Manche äußern Zweifel, ob der vage Begriff wirklich nützlich ist. Der ehemalige Leiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Israel, Jörn Böhme, weist auf das Dilemma hin, wenn Deutschland "an der Seite Israels" stehen wolle.
Im Bericht aus Berlin fragt Böhme: "Wenn man damit meint, an der Seite der jetzigen israelischen Regierung zu steht, dann muss man sich fragen: Tut diese Regierung mit ihrer Politik etwas für die langfristige Sicherheit des Staates Israel? Oder gefährdet sie diese?"
Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth plädiert aus anderen Gründen dafür, sich vom "kalten Begriff der Staatsräson" zu verabschieden. Das Wort sei eine Ausrede für manche, keine Empathie für Israel zu zeigen, meint Roth im Deutschlandfunk: "Warum sind wir nicht einfach Freundinnen und Freunde? Das ist ein Begriff, mit dem können die Menschen etwas anfangen."