Schutt liegt vor dem zerstörten Haus der ermordeten Friedensaktivistin Vivian Silver im Kibbuz Beeri.

Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 Ein Schrecken, der nicht endet

Stand: 07.10.2024 06:19 Uhr

Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober war das schlimmste Pogrom an Juden seit dem Holocaust. Mehr als 1.200 Menschen starben. Was geschah - und wie war das überhaupt möglich?

Von Julio Segador, ARD Tel Aviv und Anne Armbrecht, tagesschau.de, zzt. Tel Aviv

Es ist der 7. Oktober 2023. Eigentlich ist dieser Samstag ein Feiertag, Simchat Tora, das Freudenfest der Tora. Eigentlich - doch es kommt ganz anders. In den Kibbuzim im Süden Israels an der Grenze zum Gazastreifen werden die Menschen gegen 6.30 Uhr jäh aus dem Schlaf gerissen. Überall im Land heulen die Sirenen. Die Terrororganisation Hamas feuert an diesem Morgen Tausende Raketen aus Gaza nach Israel.

Nur langsam ergibt sich an diesem Morgen ein klares Bild, was sich in Israel an der Grenze zu Gaza ereignet. Terroristen der Hamas zerstören den Grenzzaun, setzen mit einfachen Consumer-Drohnen aus dem Elektrogeschäft die israelischen Kameras und das Warnsystem außer Gefecht. Bis zu 3.000 schwer bewaffnete Hamas-Kämpfer dringen nach Israel ein.

Sie kommen auf dem Land- und Seeweg, sie fliegen sogar mit Paraglidern ein. Weisen den Bodentruppen den Weg, schießen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt. In mehr als 20 Kibbuzim dringen die Terroristen ein. Auch in israelischen Städten wie Sderot, einer 30.000-Einwohner-Stadt, angrenzend an den Nordosten des Gazastreifens, wüten Hamas-Kämpfer.

Ein Mann geht neben einem Fenster mit Einschusslöchern im Kibbuz Nir Oz (Archivfoto: 21.11,.2023)

Einschusslöcher in einem Haus des Kibbuz Nir Oz: Die Terroristen drangen in mehr als 20 Ortschaften ein.

Es ist ein Angriff auf Israels Seele

Zeugen berichten später, wie Terroristen in die Stadt fahren, wahllos auf Passanten und Fahrzeuge schießen. Von Hamas-Kämpfern, die in die Kibbuzim eindringen, plündern, morden. Die Terroristen stellen viele ihrer Gräueltaten online, in Bildern und Videos in den sozialen Medien. Der Angriff auf Israel kann quasi weltweit in Echtzeit verfolgt werden.

Es ist der schlimmste Pogrom an Juden seit dem Ende des Holocaust. Die Gewalt trifft das Land ins Mark. Es ist ein Angriff auf Israels Seele, den die Feinde Israels auskosten. Aus seinem Exil in Doha, Katar, meldet sich Ismail Hanija zu Wort. Er ist einer der führenden Vertreter der Terrororganisation Hamas. Er sieht sich in seinem Kampf gegen den verhassten Gegner am Ziel.

In einer Rede ruft Hanija verbündete militante palästinensische Gruppen in der Region dazu auf, sich am Angriff gegen Israel zu beteiligen. Und er fordert Israel auf, aus Jerusalem und dem ganzen Land zu verschwinden. Die Juden seien Fremde in diesem heiligen, gesegneten Land, ereifert sich Hanija.

Benjamin Netanyahu

Israels Premier Netanyahu: "Wir werden in diesem Krieg siegen."

"Al-Aksa-Flut" - so nennt Hamas den Angriff

Auch Israels Premierminister Benjamin Netanyahu meldet sich nur wenige Stunden nach Beginn des Angriffs zu Wort. Israel befindet sich im Krieg, lautet seine Botschaft in einer Rede an die Nation. Die Menschen in Israel sollten sich auf eine lange und schwierige Auseinandersetzung mit der Hamas einstellen.

"Truppen der Hamas sind heute in israelisches Gebiet eingedrungen. An einem Feiertag, einem Schabbat. Sie töteten unschuldige Bürger, Kinder und Alte", sagt Netanyahu. "Die Hamas begann einen bösen und brutalen Krieg. Wir werden in diesem Krieg siegen, aber der Preis wird sehr hoch sein." Und weiter: "Für uns alle ist das der schwerste Tag. Was heute geschah, ist noch nie in Israel passiert. Und ich werde dafür sorgen, dass es nicht noch einmal geschehen wird."

Mohammed Deif ist die Nummer zwei der Hamas im Gazastreifen. Der Mann hinter Hamas-Chef Jahia Sinwar. Mehrmals in der Vergangenheit hatte Israel versucht, ihn zu töten. Doch an diesem Tag zeigt er sich mit einer Audiobotschaft, in der er die sogenannte "Al-Aksa-Flut" ankündigt. So nennt die Hamas ihren Angriff auf Israel.

Besonders schlimm trifft es Be'eri

Die Terroristen wüten in 22 Grenzortschaften. Sie töten wahllos, vergewaltigen und entführen Israelis und ausländische Bürger, die dort leben, arbeiten oder zu Besuch sind. Nach kurzer Zeit kontrollieren sie fast alle Militärbasen am Grenzzaun.  

Besonders schlimm trifft es den Kibbuz Be'eri. Um 6.55 Uhr morgens beginnt für die Menschen dort ein 17-stündiger Albtraum. Jeder zehnte Einwohner des kleinen Grenzortes am Gazastreifen wird ermordet. Insgesamt 102 Einwohner. Mehr als 30 Kinder, Frauen und Männer werden entführt. Be'eri wird zum Symbol des Schreckens.

Amit Halevi, der Bürgermeister des Ortes, sagt später in Interviews, er habe den Eindruck gehabt, dass der Staat Israel an diesem Tag aufgehört habe zu existieren. Wo ist die Armee? Das fragen sich an diesem Tag viele.

Karte: Kibbuz Beeri, Israel

Die Hamas nimmt mehr als 200 Geiseln

Keine zehn Kilometer von Be'eri entfernt in Re'im findet zu diesem Zeitpunkt das Nova-Festival statt. Die jungen Leute tanzen ausgelassen, als eine Durchsage die Veranstaltung unterbricht. Raketenalarm. Kurz danach fallen erste Schüsse. Mit Pickups, Motorrädern und Quads stürmen die Terroristen das Festivalgelände. Feuern aus ihren Kalaschnikows wahllos in die Menge flüchtender Festivalbesucher. Sie töteten 364 Festivalbesucher auf dem Gelände, viele wurden zuvor gefoltert.

Mehr als 200 Menschen entführen die Hamas-Kämpfer an diesem Tag aus den Ortschaften im Süden Israels in den Gazastreifen.

Israel beginnt noch am selben Tag in Gaza einen Krieg gegen die Hamas. Das Bombardement wird nun für Monate nicht aufhören. Bis auf eine neuntägige Waffenruhe im November wird das Zischen vorbeifliegender Raketen, das Surren der Drohnen, werden die Explosionen und Detonationen zum täglichen Begleiter der Menschen in dem schmalen Küstenstreifen.

Wo war die Armee?

Israel rächt sich bitter für den Angriff des 7. Oktober, für den Pogrom an seiner Bevölkerung. In den Wochen und Monaten nach diesem schicksalhaften Tag werden Zehntausende Bewohner des Gazastreifens den israelischen Bomben und Granaten zum Opfer fallen.

Doch wie konnte es zu der Terrorattacke kommen? Wo waren die Geheimdienste, wo war die Armee? Das Vertrauen Israels in seine Sicherheitsstrukturen war riesengroß. Doch weder der immens teure Grenzzaun hielt dem Überfall der Hamas stand, noch wurden vom Geheimdienst die Hinweise, die es im Vorfeld gab, ernst genommen.

Und auch die Armee war anfangs stark unterlegen, kritisiert Amir Lupovici, Experte für Abschreckung. Er lehrt an der Universität Tel Aviv. "Das hätte niemals geschehen dürfen. Die Armee hätte in der Lage sein müssen, dieser Menge an Hamas-Kämpfern, die in israelisches Gebiet eingedrungen sind, besser und schneller Herr zu werden. Die Probleme lagen wohl in der Vorbereitung der Armee."

Zerstörte Autos sind am 12. Oktober 2023 auf dem Gelände des Nova-Musikfestivals in der Nähe des Kibbuz Beeri zu sehen.

Verbrannte Autos auf dem Novafestival-Gelände: Terroristen ermordeten hier 364 Menschen.

Geheimdienstinformationen wurden ignoriert

Vieles hat dazu beigetragen, dass der 7. Oktober mit der Attacke der Hamas und etwa 1.200 Toten überhaupt möglich wurde. Falsche innenpolitische Weichenstellungen, mit dem Abzug von Soldaten von der Grenze des Gazastreifens ins Westjordanland, um Siedler zu schützen. Das Ignorieren eindeutiger Geheimdienstinformationen, das Vertrauen auf eine mangelhafte Abschreckung. Und nicht zuletzt die starke Polarisierung in der israelischen Gesellschaft.

All das habe dazu geführt, sagt Lupovici, dass Israel sein Sicherheitsversprechen nicht einhalten konnte - und der brutale Terrorangriff der Hamas möglich wurde.