Was eine Hamas-Geisel erlebte "Es tut mir leid, Liebling, wir werden jetzt sterben"
Vor einem Jahr verübten Hamas-Terroristen in Südisrael ein Massaker. Etwa 240 Menschen verschleppten sie nach Gaza. Eine ehemalige Geisel berichtet von dem Grauen, das sie mit ihrer Tochter erlebte.
Dieser Beitrag enthält Schilderungen von Gewalt und Misshandlungen. Die Inhalte könnten verstörend wirken.
Danielle Aloni hockt in absoluter Dunkelheit, als sie die Hoffnung verliert. Sie ist mit der Familie in einem brennenden Haus gefangen und Rauch kriecht ihr in die Lungen. Draußen hört sie Schüsse. "Das ist das Ende, dachten wir. Ich drückte meine Tochter ganz fest an mich und sagte: Es tut mir leid, Liebling, wir werden jetzt sterben. Aber welche Fünfjährige weiß schon etwas vom Sterben?" Sie weiß einfach nicht, wie sie sonst Abschied nehmen soll. Dann verliert sie das Bewusstsein.
"Das hier ist Israel. Wir haben die mächtigste Armee im Nahen Osten. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier Geiseln genommen werden?"
So erzählt Aloni, eine blonde Frau Anfang vierzig, ein Jahr danach im ARD-Interview. Sie sitzt dabei in einem Bürogebäude im Zentrum von Tel Aviv. Sie spricht mit fester Stimme, hält aber auch manchmal inne. Auf Englisch ringt sie in der folgenden Stunde immer wieder um Worte für das Grauen. Für den Tag, der ihre Familie zerriss und das Land im Schock zurückließ. Für das Massaker der Hamas am 7. Oktober.
Hoffen auf Rettung, die nicht kommt
Es ist der Morgen des 7. Oktober 2023. Sirenen schrillen im Süden Israels. Raketenalarm. Danielle Aloni, ihre fünf Jahre alte Tochter, ihre Schwester, deren Mann und die dreijährigen Zwillinge suchen im Kibbuz Nir Oz Zuflucht im Schutzraum. Doch etwas ist anders als bei früheren Angriffen - dieser ist viel lauter.
Kurz darauf pingt eine Chatnachricht auf dem Handy: Terroristen der Hamas sind in den Ort eingedrungen. Zu Hunderten haben sie den Grenzzaun am Gazastreifen überwunden und stürmen nun die Kibbuzim auf der israelischen Seite. Alonis Familie trennt nur eine Tür von den Terroristen. Und die ist nicht mal abschließbar.
Alonis Schwager hält die Klinke von innen. Über Stunden steht er da und weicht nicht. Nicht, als die Terroristen dagegentreten. Auch dann nicht, als sie das Haus anzünden. Die Familie sitzt nun ganz im Dunkeln, weil der Strom gekappt ist. Draußen hören sie Gefechtslärm und Gebrüll.
"Ich erinnere mich, dass ich sehr viel Angst hatte. Ich fing an zu zittern", erzählt Aloni. "Ich hielt meine Tochter eng an mich gedrückt. Wir fingen an, den Rauch einzuatmen." Immer wieder wählt die Familie den Notruf. Sie hofft, dass endlich die Armee eintrifft und sie rettet. Doch niemand kommt.
Lieber im Kugelhagel sterben als im Feuer
Aloni verliert irgendwann das Bewusstsein. Eine Sprachnachricht der Schwester hält den Moment fest. Im Hintergrund schreit und weint die Tochter: "Mama, bitte stirb nicht", hört man sie. "Irgendwie habe ich es geschafft, aufzuwachen. Das war der Moment, in dem ich einen anderen Tod für uns alle gewählt habe."
Aloni will raus mit der Familie. Raus aus dem Rauch, auch wenn sie wissen, dass draußen die Terroristen warten. Lieber ein schneller Tod im Kugelhagel, als ein qualvoller in den Flammen, denken sie. Sie öffnen das Fenster und werden von Kämpfern mit Kalaschnikows herausgezerrt. Die Männer werfen sie auf Jeeps und fahren los. Erst spät versteht Aloni, dass sie nach Gaza verschleppt werden.
Die Terroristen ermorden an diesem Tag im Süden Israels mehr als 1.200 Menschen. Sie vergewaltigen Frauen, plündern und brennen Häuser nieder. Und sie entführen etwa 240 Menschen nach Gaza.
Zerstörung im Kibbuz Nir Oz: Terroristen brannten am 7.Oktober in dem Ort zahlreiche Häuser nieder.
Die Familie wird auseinandergerissen
Der Jeep mit den Geiseln kommt in einer Stadt an. Vielleicht ist es Chan Yunis, genau weiß es Aloni nicht. Menschenmassen warten dort. Sie wird auf Kopf und Rücken geschlagen. Ein ebenfalls verschleppter israelischer Soldat stirbt vor ihren Füßen. Die Kinder müssen durch sein Blut waten. Menschen jubeln und johlen, machen Fotos der Gefangenen.
Die Familie wird auseinandergerissen. Danielle Aloni und ihre Tochter werden in einen Tunnel gebracht. Stundenlang wandern sie unter der Erde. Es sei dunkel und feucht gewesen. Der modrige Geruch habe sie kaum atmen lassen. Dann erreichen sie einen Raum mit Gitterstäben. Andere Menschen, teils verletzt und gefesselt, hocken dort bereits. Auch Geiseln aus dem Kibbuz Nir Oz sind darunter. "Da habe ich erst verstanden, dass wir nicht die einzigen waren", erzählt Aloni.
Die kommenden Wochen verbringen sie in den Tunneln. Nur ein paar Tage sind sie oberirdisch in einer Wohnung: in einem fensterlosen Raum mit Kakerlaken. Doch bei Bombardements in Gaza geht es wieder hinunter in die Dunkelheit. Israels Armee hat inzwischen Luftangriffe gegen die Hamas gestartet.
Tunnelsystem der Hamas in Gaza: Auch Aloni und ihre Tochter waren über Wochen unter der Erde gefangen.
"Ich habe unseren Premierminister angeschrien"
Danielle Aloni will stark für ihre Tochter sein und ihr die Angst nehmen. Sie gibt ihr Essen, als sie selbst hungert. Nennt die Hamas-Kämpfer "nette Menschen". Versucht zu lächeln von Zeit zu Zeit. "Als Mutter setzt du Kräfte frei, von denen du nicht glaubst, dass du sie haben könntest", sagt sie. "Du sagst dir: Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um meine Tochter so schadlos wie möglich durch dieses Trauma zu bringen." Ein Kind dürfe nie die Hoffnung verlieren, sagt sie. Was sie selbst in Gefangenschaft durchmacht, sagt sie nicht.
Doch dann, nach zwei Wochen, bricht auch Aloni zusammen. "Mir blieb die Luft weg. Ich habe angefangen, herumzuschreien und zu weinen", erzählt sie. Die anderen Geiseln hätten ihr die Tochter abgenommen. In diesem Moment habe sie nicht mehr geglaubt, zu überleben.
Anfang November veröffentlicht die Hamas ein Propagandavideo. Drei Frauen kauern auf Stühlen, Aloni in der Mitte. Sie trägt ein blaues Kleid, sieht blass aus. Ein Hamas-Kommandeur habe ihr Notizen gegeben, erzählt sie, aber nicht gezwungen, es aufzunehmen. "Man hat in dem Video meine mentale Verfassung gesehen. Das war authentisch", sagt sie. "Ich habe unseren Premierminister angeschrien, uns da rauszuholen."
Danielle Aloni (Mitte) in einem Propaganda-Video der Hamas.
Freiheit nach 49 Tagen Gefangenschaft
Und Ende November passiert es tatsächlich: Danielle und ihre Tochter kommen frei, nach 49 Tagen. Israel hat einer mehrtägigen Waffenruhe und der Freilassung palästinensischer Häftlinge zugestimmt, im Austausch für die Rückkehr von 105 Geiseln. Auch Danielles Schwester und die Zwillinge sind darunter. Der Schwager bleibt zurück. Er ist bis heute in Gefangenschaft.
Danielle Aloni bezeichnet es als großes Glück, wieder frei zu sein. Doch das Herz ihrer Familie sei noch immer in Gaza, sagt sie. Der Schmerz kann nicht vergehen, solange die Familie nicht vollständig ist.
Israels Armee hat während der Kämpfe in Gaza nur sehr wenige Entführte befreien können. 101 Geiseln sind nach nun einem Jahr noch immer im Küstenstreifen gefangen. Wie viele noch am Leben sind, ist unklar. Zuletzt wurden Anfang September sechs tot geborgen.
Die Angehörigen werben für ein neues Abkommen, um die Verbliebenen doch noch nach Hause zu holen. Sie sind laut und machen Druck auf Netanyahus Regierung, protestieren Woche für Woche auf den Straßen. Plakate mit den Bildern der Entführten kleben an vielen Hausfassaden, am Strand, in Cafes, am Flughafen. Viele Menschen tragen gelbe Schleifen, als Symbol der Solidarität.
Symbol der Solidarität: Jede Woche demonstrieren Israelis auf den Straßen für die Freilassung der Geiseln.
"Wie viele sollen noch sterben?"
Hunderte Schilder und T-Shirts, außerdem kistenweise Sticker und Basecaps liegen im Keller des Büros in Tel Aviv, das den Familien der Geiseln als Zentrale dient. Auf Spruchbändern für die nächste Demo steht "Bring them home now!" oder "Home is victory".
Doch die Vermittler aus den USA, Ägypten und Katar bemühen sich seit Monaten vergeblich um einen Geisel-Deal mit der Hamas. Zuletzt schienen die Gespräche ganz zum Erliegen gekommen. Inzwischen zweifeln viele, ob die Verantwortlichen einen Deal überhaupt wollen. Und nun, durch Israels Kämpfe gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon und den Beschuss durch Iran, schwindet auch noch die Aufmerksamkeit.
Die Familien und Freunde der Verschleppten wissen, dass ihnen die Zeit davonrennt. "Ich habe Angst, dass mit jedem Tag, der vergeht, eine weitere Geisel stirbt", sagt Danielle Aloni. Es ist das einzige Mal im Gespräch, dass ihre Stimme bricht. Sie tupft sich ein paar Tränen aus dem Augenwinkel. "Wie viele sollen noch sterben?"