Israels Dilemma Das gespaltene Land
Die israelische Bevölkerung ist in mehrerlei Hinsicht zutiefst gespalten. Die Regierung tut wenig, die Risse in der Gesellschaft zu zu kitten. Vielmehr fördert sie die Differenzen.
Eine Begegnung, die in diesen Tagen typisch ist für den Zustand der israelischen Gesellschaft: Ein Angehöriger einer in Gaza verschleppten Geisel stellt auf der Straße Itamar Ben-Gvir. Der rechtsextreme Politiker ist Minister für nationale Sicherheit und bekannt für seinen harten Kurs.
Der Angehörige fordert den Minister auf, sich stärker für die Geiseln einzusetzen. Doch Ben-Gvir antwortet nur, man solle den Menschen in Gaza die Treibstofflieferungen sperren, dann würde schon alles gutgehen - und schüttelt den Angehörigen der Geisel ab wie eine lästige Fliege.
Hamas-Angriff polarisierte Israel weiter
Eine Szene, die zeigt: Israel ist gespalten wie noch nie in seiner 76-jährigen Geschichte. Schon vor dem 7. Oktober vergangenen Jahres war das Land polarisiert. Fünf Parlamentswahlen in etwas mehr als vier Jahren und der Streit um die Justizreform hatten Israel aufgewühlt. Doch das ist kein Vergleich zu dem, was sich seit Monaten auf Israels Straßen abspielt.
Zehntausende gehen inzwischen fast täglich auf die Straßen, vor allem in Tel Aviv, so wie Nili Presler. Sie fordert wie viele andere, dass die Regierung ihren Kurs ändert: "Ich bin seit Oktober jeden Tag, an jedem Wochentag und jeden Samstagabend auf der Straße gewesen und habe protestiert, weil wir unsere Geiseln nach Hause bringen müssen. Ich glaube nicht, dass unsere Regierung genug tut, um sie zurückzuholen."
Geiselbefreiung nicht die höchste Priorität
Doch die Regierung von Benjamin Netanyahu zeigt sich hartleibig. Der Ministerpräsident setzt auf die militärische Stärke. Zwar betont er immer wieder das Kriegsziel, die Geiseln aus Gaza befreien zu wollen. Doch der Kampf gegen die Hamas und die Hisbollah hat für ihn Priorität.
Kritik an seinem Kurs kontert er immer wieder mit Angriffen gegen seine Kritiker: "Ich muss von diesen Leuten nicht motiviert werden. Und ehrlich gesagt - und das sage ich bewusst: Es erhöht nur die Forderungen der Hamas und bringt uns von dem Ziel, das wir uns alle so sehr wünschen, der Rückkehr all unserer Geiseln, weiter weg."
Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt
Kritik an seinem Kurs wischt Israels Premier vom Tisch, seine Kritiker stuft er als Feinde ein, die der Sache der Hamas dienen. Viele in Israel, wie etwa der 77-jährige Nahum Gil, zweifeln, ob Israel überhaupt noch ein Rechtsstaat ist: "Was derzeit in Israel passiert, macht mir große Sorgen. Die Gefahr für die Demokratie ist keine Angst in der Zukunft. Sie ist bereits da. Die Diktatur ist bereits da. Sie hat bereits tiefe Wurzeln und es sieht so aus, als würde sie sich noch weiter ausbreiten."
Während viele Menschen im Land den Kurs der Regierung ablehnen und dagegen auf die Straßen gehen, hat sich ein anderer Teil der israelischen Gesellschaft seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres weitgehend zurückgezogen: die palästinensischen Israelis, immerhin ein Fünftel der Bevölkerung des Landes.
Palästinenser im Land fühlen sich ausgegrenzt
Yara Mansour, eine 29-jährige Rechtsanwältin aus Jaffa, ist Palästinenserin und israelische Staatsbürgerin. Doch schon seit jeher fühlte sie sich als Bürgerin zweiter Klasse in ihrem Heimatland. Diese Einschätzung hat sich während des vergangenen Jahres weiter verstärkt.
"Wir fühlten: Sie wollen sich für Gaza rächen. Es ging nicht nur um den Krieg, um die Hamas. Und ich habe das von Studenten, Professoren, ja sogar von Ärzten gehört", erzählt sie. "Du fühlst dich in solchen Momenten allein. Du weißt, das ist nicht dein Staat, deine Gemeinschaft. Sie sehen dich als Feind. In den ersten Tagen des Krieges sagte Netanyahu: Wir kämpfen an vier Fronte: in Gaza, im Westjordanland, im Libanon und innerhalb des Landes. Er meinte uns - weil wir Palästinenser sind."
Israel ist polarisiert, in vielerlei Hinsicht. Dass sich der Krieg ausweitet, verstärkt die Spaltung der Gesellschaft weiter.