Jahrestag des 7. Oktober Ein Krieg begleitet von Desinformation
Falschbehauptungen und Verschwörungsnarrative spielen seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel eine große Rolle beim Krieg in Nahost. Eine Bilanz über Strategien und weit verbreitete Postings.
"Entmenschlichende metaphorische Redewendungen und die Verbreitung von Fehlinformationen im Zusammenhang mit dem Israel-Hamas-Krieg haben eine toxische Wirkung auf das gesamte Online-Ökosystem." Zu dem Schluss kommt eine Analyse des Institute for Strategic Dialogue (ISD) ein Jahr nach dem Überfall der militant-islamistischen Hamas auf Israel.
In der Analyse "Fehlinformationen, Desinformationen und Verschwörungsmythen zum Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober" wurden vom 1. Oktober 2023 bis zum 31. Juli 2024 1,8 Millionen Beiträge auf dem Kurznachrichtendienst X von fast 600.000 Accounts ausgewertet und die 150 reichweitenstärksten Beiträge qualitativ untersucht.
Falschdarstellung seriöser Berichterstattung
Eine zentrale Taktik zur Förderung von Desinformation ist laut ISD die Falschdarstellung oder selektive Verwendung seriöser Berichterstattung. So werden glaubwürdige Nachrichtenbeiträge offenbar absichtlich falsch oder ungenau dargestellt und dafür genutzt, um falsche Behauptungen vermeintlich zu belegen oder Verschwörungserzählungen seriös wirken zu lassen.
Die verlinkten Beiträge würden Untersuchungen zufolge jedoch nur selten abgerufen werden, "sodass falsch dargestellte Links in einem Social-Media-Beitrag ein wirksames Instrument für Desinformation darstellen", so die Autoren der Analyse vom ISD.
Israelischer Medienbericht falsch dargestellt
Jackson Hinkle, US-amerikanischer Influencer, der durch prorussische und antiisraelische Positionen aufgefallen ist, hat beispielsweise die Berichterstattung der israelischen Tageszeitung Haaretz falsch dargestellt.
In einem Posting auf X bezieht er sich auf eine angebliche "Haaretz-Untersuchung", die alle "israelischen Lügen" vom 7. Oktober enthüllen würde. In seinem Post steht unter anderem, dass "nur" 900 Israelis starben, wovon die Hälfte Soldaten waren und es keine Beweise für die Gräueltaten der Hamas gebe.
Wenige Stunden später wurden diese Behauptungen von Haaretz als "eklatante Lügen" widerlegt, die "absolut keine Grundlage in der Berichterstattung von Haaretz" haben. Hinkles Beitrag wurde auf der Plattform X mehr als fünf Millionen Mal aufgerufen - der von Haaretz hingegen nur 1,1 Millionen Mal, sodass die Richtigstellung vermutlich nur einen Bruchteil der Nutzer erreicht hat.
Desinformationen über Angriff der Hamas
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober verbreiteten sich gleich mehrere Falschinformationen zu dem Ereignis. Während antiisraelische Kanäle wie Hinkle die Gräueltaten der Hamas leugneten oder relativierten, gab es auch in die andere Richtung Falschbehauptungen. So wurde von proisraelischen Kanälen die Behauptung verbreitet, die Hamas hätte bei dem Angriff auf Israel 40 Säuglinge enthauptet. Dafür gibt es jedoch keine Beweise, wie mehrere Medien berichteten. Dennoch teilten auch seriöse Medien und Politiker diese Falschinformation.
"Beim Krieg in Nahost spielen ähnlich wie beim Krieg in der Ukraine die sozialen Netzwerke eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Falschbehauptungen", sagt Roberta Schmid, Managing Editor Germany & Austria bei NewsGuard. Es gebe viele verschiedene Arten, wie Desinformation zu dem Thema verbreitet werde: Von KI-generierten Inhalten über Bilder und Videos, die aus dem Kontext gerissen wurden, hin zu Website-Netzwerken, die ganze Artikel mit Falschbehauptungen veröffentlichten. Besonders sei beim Krieg in Nahost dabei vor allem der Fokus auf Kinder.
So kursierten in den vergangenen Monaten unter anderem KI-generierte Bilder von vermeintlich palästinensischen Kindern, die in zerstörten Gebäuden in Gaza schlafen. "Die bloße Möglichkeit der KI verleiht dem Informationskrieg eine neue Dimension", sagt Guy Fiennes, Research Associate beim ISD. "Im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas hatten die Nutzer offenbar zunehmend Schwierigkeiten, KI-Inhalte richtig zu identifizieren."
Bildmaterial aus Kriegen in Syrien und Jemen
Zudem werden bei Bildern und Videos oft Kinder gezeigt, wie sie vermeintlich aktuell in den palästinensischen Gebieten leiden würden. Viele davon wurden jedoch in einem ganz anderen Kontext aufgenommen, stammen zum Beispiel eigentlich aus den Kriegen in Syrien oder dem Jemen.
Andersherum wird manchmal fälschlicherweise behauptet, dass Bildmaterial von verletzten oder getöteten Kindern in Gaza nicht echt sei. So wurde laut NewsGuard eine Falschinformation weit verbreitet, in der es hieß, dass es sich bei einem vermeintlich toten palästinensischen Kind lediglich um eine Puppe handele. Dabei war diese Behauptung falsch, das Kind war keine Puppe.
"Das ist etwas, was wir von beiden Seiten in den sozialen Netzwerken sehen", sagt Schmid. "Manchmal heißt es fälschlicherweise, dass etwas echt sei, und manchmal heißt es fälschlicherweise, dass etwas nicht echt sei."
Verbreitung von antisemitischen Narrativen
Auch antisemitische Verschwörungsmythen werden im Zusammenhang mit dem Krieg in Nahost viel verbreitet. Das ISD schreibt in der Analyse dazu: "Konfliktbezogene Fehlinformationen wurden ausgenutzt, um bestehende Verschwörungserzählungen zu fördern." Unter anderem verschwörungsideologische Websites und Kanäle verbreiteten die Verschwörungserzählung, dass der Überfall der Hamas auf Israel in Wahrheit eine sogenannte False-Flag-Aktion gewesen sei.
"Mit solchen Verschwörungserzählungen wird der antisemitische Verschwörungsmythos der jüdischen Elite manifestiert", sagt Schmid. Dabei würden bestehende antisemitische Stereotype mit den aktuellen Ereignissen vermischt werden. Davon berichtet auch Fiennes vom ISD. "Die häufigsten antisemitischen Erzählungen waren Verschwörungstheorien über jüdisches Geld, Macht oder Einfluss."
Desinformation aus anderen Ländern
Befeuert werden die zahlreichen Desinformationen über den Krieg in Nahost von ganzen Website-Netzwerken. Nach Angaben von NewsGuard spielt dabei zum Beispiel das russische "Pravda"-Netzwerk eine Rolle, auch vom Iran aus werden besonders viele Desinformationen verbreitet.
"Im Fall des Israel-Gaza-Konflikts macht das hohe Maß an Engagement in allen Bereichen den Konflikt reif für die Ausnutzung durch opportunistische Akteure", sagt Fiennes. "Diese Bemühungen zielen nicht nur darauf ab, die Situation in Israel und im Gazastreifen zu beeinflussen, sondern auch darauf, die Spannungen in anderen Ländern zu verschärfen, in denen bösartige Akteure ein Interesse daran haben, die geopolitische Lage zu verändern."
So hieß es in iranischen Staatsmedien unter anderem, dass Berichte über die Vergewaltigung israelischer Frauen durch die Hamas "westliche Propaganda" seien. Eine prorussische Website verbreitete die Falschbehauptung, dass ein Schweinekopf, eingewickelt in einer palästinensischen Flagge mit der Aufschrift "Ukraine steht hinter Israel", durch das Fenster einer Berliner Moschee geworfen wurde. Dieser Vorfall war jedoch frei erfunden.
Laut Schmid versuche Russland, auch im Zusammenhang mit dem Krieg in Nahost die Ukraine und die Unterstützung des Westens für die Ukraine zu diskreditieren. Ein weiteres Beispiel dafür ist die verbreitete Falschbehauptung, die Hamas hätte die Waffen für den Überfall auf Israel von der Ukraine erhalten, die diese von westlichen Ländern als Unterstützung für den Kampf gegen Russland bekommen hätte.
Anfeindungen gegen Juden und Muslime nehmen zu
Desinformation und Fehlinformationen zeigen nicht nur online Wirkung und tragen zu verhärteten Fronten und einer Radikalisierung bei. Es werden der ISD-Analyse zufolge gezielt Themen genutzt, um Verbindungen zwischen dem Konflikt und eskalierenden Spannungen zwischen inländischen Gemeinschaften in westlichen Ländern herzustellen.
So ging der Anstieg von antimuslimischem und antisemitischem Hass im Internet nach dem 7. Oktober mit einem signifikanten Anstieg gemeldeter Hassverbrechen in europäischen Ländern, den USA und Kanada einher, wie eine Untersuchung des ISD zeigt.
Dies ist auch in Deutschland der Fall. Im vergangenen Jahr verzeichnete etwa die Recherche- und Informationsstelle für Antisemitismus RIAS 4.782 antisemitische Vorfälle - gut 82 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit CLAIM wiederum dokumentierte im vergangenen Jahr 1.926 Fälle von antimuslimischem Rassismus - ein Anstieg von 114 Prozent im Vergleich zu 2022.