Nach Tod von Hamas-Chef Sinwar Kein Ende des Krieges in Sicht
Was ändert sich mit dem Tod von Hamas-Chef Sinwar? In Israel herrscht Freude, im Gazastreifen Wut. Der Krieg geht weiter. Wer Sinwar an der Spitze der Hamas nachfolgen könnte, ist offen.
Chan Younis im Gazastreifen am Morgen: Auch wenn die Terroroganisation Hamas den Tod ihres Anführers zu dem Zeitpunkt noch nicht bestätigt hatte - das Schicksal von Jihia Sinwar ist allgegenwärtig bei den Gesprächen auf der Straße.
Ismail Al-Atthamneh, ein Flüchtling, der eigentlich aus Beit Hanoun stammt, glaubt nicht, dass der Tod Sinwars die katastrophale Lage der Menschen in dem schmalen Küstenstreifen verbessern wird. Die Nachricht vom Tod Sinwars sei ein schwerer Schlag für das palästinensische Volk gewesen, sagt er. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu "wird nicht aufhören, das wissen wir. Er hat das gesamte palästinensische Volk im Visier, nicht nur Sinwar. Jeden Tag gebe es Massaker. "Sie haben alle Palästinenser getötet, Kinder und Alte. Alle Menschen."
Die Skepsis und auch der tiefe Hass gegenüber den Israelis, die im Gazastreifen seit einem Jahr Krieg führen, ist immens. Auch bei Abu Al-Amir Al-Laham. Er ist sicher, dass Sinwars Position schon bald neu besetzt wird. "Wir haben uns daran gewöhnt, dass der Tod der Führung eine Motivation für den Widerstand ist", sagt Al-Laham. "Stärkere und standhaftere Führer werden kommen. Wir hoffen, dass mit Sinwars Ermordung ganz Palästina befreit wird."
Wer wird Sinwars Nachfolger?
Derzeit ist völlig offen, wer Sinwars Rolle als Chef der Hamas einnehmen wird. Die Terrororganisation scheint gespalten. Potenzielle Nachfolger wie Khaled Meshal leben in Katar. Andere wie Usama Hamdan sind im Libanon untergetaucht.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie kaum oder keinen Kontakt zum militärischen Flügel der Hamas im Gazastreifen haben. Arabische Quellen berichten, dass in Gaza selbst nun Sinwars Bruder Mohammed das militärische Kommando übernehmen könnte. Davon gehen laut Medienberichten auch israelische Militärexperten aus. Zudem scheint ein mehrköpfiger Militärrat möglich.
Dass der Tod Sinwars den Krieg in Gaza und auch im Libanon möglicherweise abschwächt oder gar beendet, scheint ausgeschlossen. Im Libanon kündigte die Terrormiliz Hisbollah den Übergang zu einer neuen und verschärften Phase der Konfrontation mit Israel an. Ähnlich äußerte sich auch der Iran. Keine Reaktionen gab es vom greisen Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas.
Hamas bestätigt Sinwars Tod
Unterdessen hat die Hamas den Tod Sinwars am Mittag bestätigt. Sinwar habe bis zum letzten Moment seines Lebens gegen den Feind gekämpft, erklärte Khalil al Hayya aus der Führungsriege des politischen Büros der Hamas in einer Videobotschaft. Für einen Kurswechsel bei der Terrororganisation sieht er dennoch keinen Grund - die Hamas werde gegen Israel weiterkämpfen, so al Hayya, der wie Meshal in Katar lebt.
Mit Blick auf eine mögliche neue Vereinbarung zur Freilassung der Geiseln zeigte sich der Hamas-Funktionär unnachgiebig. Das käme erst infrage, wenn die Kämpfe endeten, die israelische Armee sich aus dem Gazastreifen zurückziehe und die palästinensischen Gefangenen aus den Haftanstalten der Besatzer freigelassen würden.
Netanyahu will offenbar neue Möglichkeiten ausloten
In Israel herrscht tiefe Genugtuung über den Tod des Staatsfeinds Nummer eins. Auch wenn viele Menschen nicht genau einschätzen können, was das für die verschleppten Geiseln bedeutet. "Es ist wunderbar, dass Sinwar tot ist", sagt ein Mann. "Wir sind sehr froh über den Tod eines jeden Anführers. Das versetzt uns hier regelrecht in Ekstase." Er hoffe, dass die Hamas jetzt durch Angst dazu gebracht wird, Verhandlungen zu führen. "Jetzt wo Sinwar die Verhandlungen nicht mehr führt, wird vielleicht jemand Normales an seine Stelle treten."
Noch heute will sich Netanyahu in kleiner Runde mit Ministern und Sicherheitsexperten treffen. Berichten zufolge soll ausgelotet werden, ob es nach dem Tod Sinwars neue Möglichkeiten gibt, die Geiseln freizubekommen.