Getöteter Hamas-Chef Sinwar "Skrupellos, hinterlistig und intelligent"
Jihia Sinwar war seit Langem der meistgesuchte Hamas-Terrorist im Gazastreifen. Die israelische Führung hatte nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 angekündigt, ihn töten zu wollen. Jetzt ist es ihr gelungen. Wofür stand Sinwar?
Es gab viele Bezeichnungen, die Beobachter Jihia Sinwar im Laufe der Jahre zugedacht haben. Und zumeist zielten sie auf Eigenschaften, die seinen Aufstieg in der Hamas befördert haben dürften, ihn für Israel dagegen zu einem der erbittertsten Feinde werden ließen. "Schlächter von Chan Yunis" war so ein Beiname, "Psychopath mit Borderline-Syndrom" ein anderer.
Wie auch immer er genannt worden sein mag - Sinwar stand stets für die unbedingte Bereitschaft, äußerste Gewalt im Kampf gegen Israel und Israelis anzuwenden. Geboren wurde er 1962 im Flüchtlingslager Chan Yunis, studierte Arabistik in Gaza-Stadt und soll damals schon den späteren Hamas-Gründer Ahmed Yassin kennengelernt haben. Anfang der 1980er-Jahre wurde er erstmals in israelische Haft genommen.
Als Yassin 1987 die Hamas gründete, soll Sinwar dabei gewesen sein - und wurde nur ein Jahr später von einem israelischen Gericht zu einer viermal lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, weil er vier palästinensische Kollaborateure und zwei israelische Soldaten ermordet hatte.
Mit den eigenen Händen getötet
Rund 22 Jahre saß Sinwar in der Folgezeit in israelischen Gefängnissen, teils in Isolationshaft. In diesen Jahren soll er sich weiter radikalisiert haben. So beschreibt ihn der israelische Fernsehjournalist Ehud Yaari, der ihn über die Jahre insgesamt viermal interviewte.
Er ist skrupellos, hinterlistig, schlau und intelligent. Meiner Meinung nach ist er ein Psychopath mit Borderline-Syndrom, der Menschen, hauptsächlich Palästinenser, mit eigenen Händen stranguliert und getötet hat.
Anführer der Häftlinge
Mit derlei Gewalttaten habe Sinwar ihm gegenüber jedenfalls geprahlt, berichtete Yaari und beschrieb Tötungen von großer Grausamkeit, die Sinwar eigenen Angaben nach veranlasst habe. Von einem Schreckensregime, das er in Haft ausgeübt habe, ist in anderen Berichten die Rede.
Bei Weggefährten wie dem hochrangigen Hamas-Funktionär Osama Hamdan löste das nur Schulterzucken aus - es gebe nun mal ein palästinensisches Gesetz, das Kollaborateure bestraft. In Haft stieg Sinwar zum Anführer der palästinensischen Häftlinge auf.
Den Feind besser verstehen
Die Haftzeit nutzte Sinwar unter anderem dazu, Hebräisch zu lernen, um Israel besser verstehen zu können. Was wohl heißen soll: Er wollte das strategische Denken Israels und seine Schwächen besser durchdringen.
Der israelische Journalist Ohad Hemo schilderte, wie er bei Gefängnisbesuchen stets darauf bestanden habe, Hebräisch zu sprechen, die Sprache des Feindes:
Er kennt Kapitel unserer Thora auswendig - auf Hebräisch. Nicht, weil es sich um einen großen Theologen handelt. Sinwar versucht, in unserer Sprache zu verstehen, wann Israel zerstört wird, wie dieser jüdisch-muslimische Konflikt enden wird.
Rascher Aufstieg im Gazastreifen
Dass israelische Ärzte in dieser Zeit eine Krebserkrankung Sinwars erfolgreich behandelten, war für ihn lediglich eine Selbstverständlichkeit.
2011 kam er frei, als die israelische Regierung mehr als 1.000 palästinensische Häftlinge gegen den israelischen Soldaten Gilad Shalit austauschte.
Sinwar kehrte in den Gazastreifen zurück und stieg dort rasch innerhalb der Hamas auf. 2017 wurde er zum Anführer der Hamas im Gazastreifen gewählt. Unter ihm habe sich die Hamas weiter radikalisiert, schreibt ARD-Korrespondent Martin Durm, und Sinwar habe auch die Kontakte zum Iran intensiviert.
Drahtzieher der Terrorangriffe von 2023
Beim Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 soll Sinwar der Drahtzieher gewesen sein, berichtet ARD-Korrespondentin Bettina Meier, in die Pläne seien nur wenige eingeweiht gewesen.
Sie beschreibt einen der wenigen Auftritte Sinwars im Gazastreifen rund ein Jahr vor dem Massaker, wo er zur Gewalt gegen Israel aufrief: "Jeder, der eine Waffe besitzt, sollte sie vorbereiten. Wer keine Waffe hat, nimmt sein Schlachtmesser, seine Axt."
Die Palästinenser im Westjordanland habe er zu diesem Handeln geraten: "Die Taten von Einzeltätern haben sich bewährt. Ein zwei, höchstens drei Menschen dürfen beteiligt sein. Darüber hinaus darf keiner davon wissen."
Nach dem Terrorangriff und der Verschleppung Hunderter Geiseln habe er sich einigen von ihnen im weitverzweigten Tunnelsystem unter dem Gazastreifen gezeigt und ihnen auf Hebräisch gesagt: "Ihnen passiert nichts. Hier sind Sie sicher." So berichtete es eine der später freigelassenen Geiseln.
Eine vordergründig beruhigende Aussage, vor allem aber eine zynische Bemerkung, denn dass von Terroristen verschleppte Menschen sich grundsätzlich nicht in Sicherheit fühlen, dürfte Sinwar klar gewesen sein - zumal über dem Tunnelsystem der Hamas ein massiver Militäreinsatz der israelischen Armee gegen die Hamas lief, der auch seiner Person galt.
Ein weiterer Aufstieg - für wenige Wochen
Dass der durch den Terrorangriff ausgelöste Militäreinsatz Israels die ganze Region in Schutt und Asche legte, Zehntausende Palästinenser das Leben kostete und eine humanitäre Katastrophe heraufbeschwor, war für Sinwar offenbar ein Preis, den zu zahlen er und die Hamas bereit waren, weil sie es als notwendige Etappe und akzeptables Opfer auf dem Weg der Zerstörung Israels und der Vertreibung der Israelis aus der Region betrachteten.
Als der Hamas-Führer Ismail Hanija in Teheran getötet wurde, stieg Sinwar auch zum politischen Anführer der Hamas auf. Das konnte man auch als Signal an Israel werten, dessen Führung vorher bekräftigt hatte, dass Sinwar nach dem Terrorangriff ein toter Mann sei.
Das Signal währte zwei Monate. Nun soll Sinwar bei einem israelischen Angriff im Gazastreifen getötet worden sein.
Mit Material von Bettina Meier, ARD Tel Aviv und Martin Durm, SWR.