Nach Dammbruch in der Südukraine "Die Situation ändert sich jede halbe Stunde"
Die Langzeitfolgen nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms sind noch nicht absehbar: Die IAEA warnt, der sinkende Pegelstand des Stausees könne das AKW Saporischschja bedrohen. Unklar ist immer noch, wie es zum Bruch der Staumauer kam.
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms ergießen sich stromabwärts die Fluten eines Stausees, der flächenmäßig viermal so groß ist wie der Bodensee. Dass der überflutete Unterlauf des Dnipro die teilweise verminte Frontlinie im Krieg Russlands gegen die Ukraine markiert, erschwert die Evakuierung und den Zugang von Hilfsorganisationen zusätzlich.
Am linken, von Russland besetzten, Flussufer liegt unmittelbar hinter der zerstörten Staumauer die inzwischen teils überflutete Stadt Nowa Kachowka. Allein dort sollen nach Angaben des Bürgermeisters bis zu 100 Menschen von den Fluten eingeschlossen sein. Wladimir Saldo, der de facto Verwaltungschef des russisch besetzten Teils des Gebietes Cherson, verhängte den Ausnahmezustand.
Seine Stellvertreterin Tatjana Kusmitsch beklagte im russischen Staatsfernsehen am späten Vormittag die unübersichtliche Lage. Nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums hätten sich gestern etwa 900 Menschen selbst evakuiert. Derzeit befänden sich 350 Personen in den Notunterkünften. "Aber Tatsache ist, dass sich die Situation nicht jede Stunde, sondern jede halbe Stunde ändert", so Kusmitsch.
Sinkender Pegel bedroht AKW Saporischschja
Direkt betroffen von der Katastrophe sind auf der von Russland besetzten Seite bis zu 40.000 Menschen. Zu den noch gar nicht vollständig absehbaren längerfristigen Folgen für die Bevölkerung, die Umwelt, die Trinkwasserversorgung oder die Landwirtschaft gehört aber auch diese Zahl, die Wladimir Saldo nannte: "Der Pegel des Kachowkoje Stausees ist in der Nähe von Energodar und dem Gebiet Saporischschja um mehr als 3,5 Meter gesunken."
Deshalb warnte die Internationale Atomenergieagentur IAEA, dass schon in einigen Tagen der Pegel so niedrig sein könnte, dass in das dortige und von russischen Truppen besetzte Atomkraftwerk bei Saporischschja kein Kühlwasser mehr gepumpt werden könnte. Derzeit sei das nicht kritisch, denn es gäbe ausreichend Wasser im gut gefüllten Reservebecken. Trotzdem kündigte IAEA-Chef Rafael Grossi an, das AKW in der nächsten Woche besuchen zu wollen.
Auf der Suche nach Schuldigen
Neben der akuten Katastrophenhilfe läuft die Suche nach den Schuldigen weiter. UN-Generalsekretär Antonio Guterres sprach von einer "weiteren zerstörerischen Folge der russischen Invasion in der Ukraine".
Aber genaue Informationen, was die Staumauer zum Einsturz brachte, haben auch die Vereinten Nationen nicht. Dort beschuldigten sich die Vertreter Russlands und der Ukraine gegenseitig, diesen Terrorakt verübt zu haben. Sowohl russische Spitzenpolitiker als auch Ermittlungsbehörden und die Medien des Landes beschuldigten unmittelbar und massiv die Ukraine.
Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, wirft der Ukraine vor, nicht nur das Wasserkraftwerk Kachowka massiv beschossen, sondern auch den Wasserstand im Stausee gezielt auf ein kritisches Niveau gebracht zu haben, indem man die Schleusen des Wasserkraftwerks Dnepropetrowsk öffnete.
"Wir fordern die Weltgemeinschaft auf, die kriminellen Handlungen der ukrainischen Behörden zu verurteilen, die zunehmend unmenschliche Natur und eine ernsthafte Bedrohung für die regionale und globale Sicherheit darstellen", so Sacharowa.
Bis zur Stunde gibt es keine zweifelsfreien Belege dafür, wer für die Katastrophe im Süden der Ukraine verantwortlich ist - und wie genau es zum Bruch der Staumauer kam.