Dammbruch bei Cherson Was über den zerstörten Staudamm bekannt ist
Nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms bei Cherson werden zahlreiche überflutete Häuser gemeldet. Die Kriegsparteien machen sich gegenseitig verantwortlich. Was bisher bekannt ist - und welche Folgen der Dammbruch noch haben könnte.
Was ist passiert?
Der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro bei Cherson - im russisch besetzten südlichen Teil der Ukraine, nahe der Front - wurde nach Angaben beider Kriegsparteien schwer beschädigt. Der Damm ist eingebrochen, das angrenzende Wasserkraftwerk zerstört. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig dafür verantwortlich.
Der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew sagte im russischen Staatsfernsehen, es sei "offensichtlich", dass das Kraftwerk nicht mehr repariert werden könne. Der ukrainische Betreiber der Anlage sprach von kompletter Zerstörung.
Der zerstörte Staudamm liegt etwa 80 Kilometer nordöstlich von Cherson. Schraffiert dargestellt sind von Russland besetzte Gebiete.
Welche Folgen hat der Dammbruch?
Rund 600 Häuser sind bereits überflutet. Das teilten Rettungsdienste der russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge mit. Auch die Stadt Nowa Kachowka steht den Angaben zufolge - unter Bezug auf den von Russland installierten Bürgermeister - unter Wasser. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen, sagte er im russischen Staatsfernsehen. Die Stadt liegt direkt am zerstörten Staudamm. Die russischen Besatzer riefen für Nowa Kachowka den Notstand aus.
Befürchtet werden weitere schwere Überschwemmungen. Nach ukrainischen Angaben leben in der "kritischen Zone" rund um die Anlage nahe der Stadt Nowa Kachowka etwa 16.000 Menschen.
EU-Ratspräsident Charles Michel sprach von einer Katastrophe. "Meine Gedanken sind bei allen von der Katastrophe betroffenen Familien in der Ukraine", twitterte er und kündigte an, sich für Hilfen für die betroffenen Gebiete einzusetzen. Er sei "schockiert", die "Zerstörung ziviler Infrastruktur" gelte "eindeutig als Kriegsverbrechen". Man werde "Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen."
Sind weitere Regionen betroffen?
Der von Russland eingesetzte Bürgermeister Leontjew räumte ein, dass es auch zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, die südlich von Cherson liegt. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert.
Ist das AKW Saporischschja in Gefahr?
Laut der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) bestand zunächst keine unmittelbare Gefahr für das nordöstlich, ebenfalls am Fluss Dnipro, gelegene Atomkraftwerk Saporischschja. "IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau", hieß es auf dem Twitter-Account der IAEA. "Keine unmittelbare Gefahr am Kraftwerk."
Der staatliche Betreiber Energoatom bezeichnete die Lage ebenfalls als nicht kritisch. Ein Absinken des Pegelstandes im Stausee, der das Werk mit Kühlwasser versorgt, werde sich nicht auf den Wasserstand in den Abklingbecken des Kraftwerkes auswirken, in denen die abgebrannten Brennelemente lagern, sagt Energoatom-Chef Petro Kotin.
Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Nachrichtenagentur Interfax, das Kraftwerk - das ebenso wie der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro liegt - sei nicht betroffen. Die Anlage ist infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt.
Was sagen Kiew und Moskau zur Ursache?
Vermutet wird, dass der Damm gesprengt wurde. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von "Terror" und berief den nationalen Sicherheitsrat ein. Das ukrainische Militär begann auf der in Flussrichtung rechten Seite des Dnipro - wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt - mit Evakuierungen.
Der von Russland installierte Verwaltungschef der südukrainischen Oblast Cherson teilte mit, keine Notwendigkeit für eine größere Evakuierung zu sehen. Für die Zerstörung des Staudamms macht Gouverneur Wladimir Saldo in einem auf Telegram verbreiteten Video die ukrainische Regierung verantwortlich. Diese wolle damit vom Scheitern ihrer Gegenoffensive im Osten ablenken.
Spekuliert wurde auch, dass der Damm aufgrund schlechter Wartung gebrochen sein könnte. Die Angaben beider Seiten konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Hat der Standort strategische Bedeutung?
Im Krieg Russlands gegen die Ukraine kam dem Kachowka-Staudamm von Anfang an strategische Bedeutung zu. Russland hatte im Zuge seines Angriffs auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee dann die Befreiung eines Teils der Region - auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, darunter auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka.
Die ukrainische Seite warnte immer wieder vor einem möglichen Sabotageakt der Russen in Nowa Kachowka. Für Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im November die Evakuierung der Stadt ankündigten. Der Damm wurde 1956, als die Ukraine noch Teil der Sowjetunion war, gebaut.
Der 1956 gebaute Damm liegt direkt bei Nowa Kachowka, die Stadt Kachowka befindet sich ein Stück weiter nordöstlich vom Damm entfernt. Das Bauwerk war 30 Meter hoch und mehr als drei Kilometer lang. Er staut den Dnipro kurz vor der Mündung ins Schwarze Meer zum riesigen Kachowkaer Stausee, der wegen seiner Größe selbst wie ein Meer wirkt. Vom Damm bis Cherson sind es rund 85 Kilometer flussabwärts, bis zum Standort des AKW Saporischschja in dem Ort Enerhodar etwa 150 Kilometer flussaufwärts. Der See liegt in den Verwaltungsbezirken Dnipropetrowsk, Saporischschja und Cherson.
Quelle: Reuters