"Schattenflotte" in der Ostsee "Ein Krieg ganz in unserer Nähe"
An die tausend russische "Schattenschiffe" haben letztes Jahr die Ostsee durchquert, umgingen Embargos und sabotierten Europas Infrastruktur. Estnische Beobachter sind beunruhigt.
Nachts sehen Kalle Jüriska und Aarne Vaik sie als kleine leuchtende Punkte am Horizont, sagen sie: die Schiffe der russischen "Schattenflotte".
Die beiden Männer leben in dem Ort Käsmu an der estnischen Nordküste. Fast jeden Tag stehen sie dort am Wasser, auf der Suche nach dunklen Schatten über der Ostsee. Vor einigen Jahren seien die mysteriösen Schiffe auf einmal in ihrem Blickfeld aufgetaucht, sagt Vaik: "Sie befinden sich größtenteils hinter dem Horizont, und wir sehen meist nur den oberen Teil der Schiffe."
Der Anblick beunruhigt die Esten. Denn durch die Frachter fühle sich der Krieg in der Ukraine auf einmal ganz nah an. "Es ist verstörend, weil jeden Augenblick etwas passieren kann", sagt Jüriska.
Kalle Jüriska (rechts) und Aarne Vaik beobachten seit Jahren fast täglich die russische Schattenflotte auf dem Meer vor Estland.
"Uns wurde klar, dass es sich um Putins Ölschiffe handelt"
Direkt am Wasser betreibt Vaik ein Meeresmuseum. Er lebt seit 30 Jahren in Käsmu und interessiert sich schon immer für die Schifffahrt. Viele Kapitäne stammen aus dem kleinen Ort, in dem im Winter nur rund hundert Menschen leben. Auch Jüriska war lange als Kapitän auf See unterwegs.
Der Ort Käsmu liegt an der estischen Nordküste. Viele Kapitäne stammen von hier.
Im Internet verfolgt er regelmäßig die Fahrten der "Schattenschiffe". Auf den Karten der Ostsee werden einige Schiffe als Punkte angezeigt, erklärt Jüriska: "Die stehen still. Die Pfeile bedeuten, dass die Schiffe sich bewegen."
Als sie die mutmaßlichen Schattenschiffe zum ersten Mal am Horizont gesehen hätten, habe sie das stutzig gemacht, erzählt Vaik. "Wir begannen, nachzuforschen", sagt der 82-Jährige. "Dann wurde uns klar, dass es sich um Putins Ölschiffe handelte."
Tausend "Schattenschiffe" in der Ostsee
Bis zu tausend "Schattenschiffe" sollen im vergangenen Jahr die Ostsee durchquert haben. Sie fahren unter exotischer, oft wechselnder Flagge: Ihre Eigentümer wollen im Verborgenen bleiben.
Der estnische Sicherheitsexperte Marek Kohv arbeitet am International Center for Defence and Security in Tallinn. Er beobachtet das Phänomen schon lange. "Länder nutzen Schattenflotten, wenn es Sanktionen gibt und sie nicht unter normalen Bedingungen handeln können", sagt er. "Diese Schiffe haben sehr komplizierte Eigentumsverhältnisse, sodass sehr schwer zu erkennen ist, wem sie gehören."
Seit dem Krieg in der Ukraine wächst Kohv zufolge auch die russische "Schattenflotte". Trotz EU-Sanktionen exportiere Moskau so Öl etwa nach China oder Indien.
Doch die Tanker sind tickende Zeitbomben. "Das größte Problem sind die Umweltgefahren", sagt Kohv. "Die Schattenschiffe sind alt. Sie sind ständig undicht und werden nicht ordentlich gewartet."
Am Freitag erst geriet vor Rügen ein weiterer Tanker ins Visier der Behörden: ein mit 99.000 Tonnen Öl beladenes manövrierunfähiges Schiff, das zur russischen "Schattenflotte" gehören könnte.
Für Sabotage genutzt
Dazu komme, dass die Schiffe immer häufiger für die Sabotage kritischer Infrastruktur genutzt würden.
Wie zuletzt am ersten Weihnachtstag: Plötzlich fiel die Stromleitung "Estlink 2" zwischen Finnland und Estland aus. Durch sie fließt finnischer Strom in das baltische Land. Eine Folge waren höhere Strompreise für die Verbraucher.
Finnische Ermittler reagieren prompt und stoppen ein Schiff, das sich zum Zeitpunkt der Beschädigung des Kabels in dessen Nähe aufgehalten haben soll: die Eagle S.
Der Tanker kommt aus Russland und fährt unter der Flagge der Cookinseln. Die Behörden sind sicher, dass er zur "Schattenflotte" gehört. Mit seinem Anker soll er das Kabel zerstört haben.
Eine Sache zeige ganz klar, dass der Kabelschaden kein Unfall war, sagt Kohv: "Der Anker wurde über hundert Kilometer über den Meeresboden geschleift." Es sei unmöglich, dass der Kapitän des Schiffs das nicht bemerkt habe. Acht Mitglieder der Crew gelten als verdächtig. Wegen zahlreicher Mängel darf das Schiff vorerst nicht weiterfahren.
In der Ostsee ist Europa besonders verletzlich
Währenddessen kämpft der Netzbetreiber Elering in der estnischen Hauptstadt Tallinn mit den Folgen des Kabelschadens. Bis zu acht Monate könnten die Reparaturarbeiten an dem beschädigten Kabel dauern.
Projektdirektor Hannes Kont warnt davor, den Vorfall zu unterschätzen. "Wenn Kabel so leicht zerstört werden können wie Estlink 2, dann haben wir haben ein Problem - nicht nur hier bei uns, sondern in ganz Europa", sagt Kont. "Denn egal ob Kommunikation oder Energie: Wir verlassen uns auf die Verbindungen zwischen unseren Ländern."
Nur wie lassen sich die unzähligen Kabel tief am Meeresgrund besser schützen? Die NATO will ihre militärische Präsenz in der Ostsee verstärken. Unter anderem mit Unterwasserdrohnen. Im baltischen Meer ist Europa besonders verletzlich. Und die Überwachung essenziell wichtig - aber mindestens genau so schwierig.
"Sie wollen uns von der Welt abschneiden"
Der finnische Regierungschef Petteri Orpo ist stolz, dass die Behörden in Finnland es diesmal geschafft haben, das mutmaßlich für den Schaden verantwortliche Schiff zu stoppen.
Er fordert eine noch engere Zusammenarbeit der Ostseestaaten, sieht aber auch EU und NATO in der Pflicht. "Die Ostsee liegt mitten in der EU, deshalb muss die eine Rolle spielen", sagt Orpo. "Und dann müssen wir gucken, wie wir die See mit unseren NATO-Alliierten besser militärisch schützen."
Im estnischen Dorf Käsmu haben Aarne Vaik und Kalle Jüriska nicht viel Hoffnung, dass die "Schattenschiffe" bald aus ihrem Blickfeld verschwinden. "Die Sache wird noch schlimmer", ist sich Jüriska sicher. "Sie geben nicht auf. Sie wollen uns von der Welt abschneiden."
Die Situation sei extrem beunruhigend. "Was wir da beobachten, ist ein Krieg ganz in unserer Nähe", sagt Aarne Vaik. Auch wenn sie die Schattenschiffe oft nur als winzige leuchtende Punkte am Horizont sehen - sie wissen, dass sie immer da sind. Und fürchten den Moment, in dem sie näher kommen könnten.
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