Russische Sabotage in Europa "Erleben unheimlich viele Nadelstiche"
Russland greift Europas Staaten permanent mit hybriden Mitteln an, erklärt Sönke Marahrens, Experte für hybride Kriegsführung. Parallel plane der Kreml, diese Vorbereitungen zur Destabilisierung des Westens auch militärisch "abschließen" zu können.
tagesschau.de: Die deutschen Geheimdienstchefs warnten Anfang dieser Woche vor zunehmenden Sabotageakten Russlands in Deutschland. Auch in anderen europäischen Staaten intensiviert Russland sein aggressives Vorgehen. Welche Ziele verfolgt der Kreml damit?
Sönke Marahrens: Russland ist stark gebunden in der Ukraine und arbeitet mit hybriden Mitteln in den europäischen Ländern, um die Unterstützung für die Ukraine an der Front zu verringern - damit Russland seine strategischen Ziele in der Ukraine erreichen kann.
Parallel dazu hat Russland ein Interesse, dass Europa nicht stark ist. Deswegen werden derzeit sowohl die Institutionen NATO und EU, aber auch europäische Staaten permanent mit hybriden Maßnahmen angegriffen.
Sönke Marahrens ist Experte für hybride Kriegsführung. Von 2021 bis 2024 war er Direktor für Strategie und Verteidigung am Hybrid CoE in Helsinki, dem Europäischen Kompetenzzentrum für die Bekämpfung Hybrider Bedrohungen.
"Müssen mit sehr breiten Spektrum von Angriffen rechnen"
tagesschau.de: Welche Art der Angriffe gibt es derzeit, und worauf muss sich Europa in Zukunft einstellen?
Marahrens: Hybride Bedrohungen richten sich in der Regel gegen systemische Schwächen von Organisationen oder Staaten. Und hier erleben wir unheimlich viele Nadelstiche. Russische Operateure probieren in vielen europäischen Staaten sehr unterschiedliche Dinge aus, die individuell auf den jeweiligen Staat zugeschnitten sind: Hybride Maßnahmen, die in Polen wirken, wirken nicht in Deutschland; was in Deutschland wirkt, würde nicht in Finnland wirken.
Auch in Zukunft müssen wir mit einem sehr breiten Spektrum von Angriffen rechnen. Dabei gibt es grob drei Bereiche von Zielen. Einmal gibt es Angriffe gegen staatliche Institutionen. Hier geht es darum, den Staat in seiner Handlungsfähigkeit einzuschränken, aber auch das Vertrauen der Bevölkerung in den jeweiligen Staat zu senken.
Die zweite Gruppe ist die Wirtschaft: Das sind Sabotageakte auf kritische Infrastrukturen, Cyberangriffe, Ransomware-Attacken. Damit kann die Wirtschaftskraft von Staaten geschwächt und auch Unsicherheit erzeugt werden.
Die letzte Gruppe ist die Bevölkerung. Da unterstützt Russland in der öffentlichen Debatte einander konträre Positionen. Das führt zu einer Radikalisierung - und irgendwann auch zu aggressiven Vorfällen.
Deutschlands systemische Schwäche
tagesschau.de: Welche systemischen Schwächen nutzt Russland vor allem in Deutschland?
Marahrens: In Deutschland sehen wir etwa, dass Russland bestimmte Parteien mit Geld unterstützt und Ähnliches, um hier in die politische Meinungsbildung einzugreifen. So schafft Russland es, uns zu manipulieren. Pluralität ist natürlich keine systemische Schwäche, es ist Teil unserer Demokratie. Diese Angriffsfläche ist also systemimmanent.
Aber die gefährlichste Art der hybriden Kriegsführung ist Desinformation. Dadurch können Meinungen gebildet und Narrative gesetzt werden. Antisemitismus oder extreme politische Ideen können befeuert werden.
Die Sowjetunion hatte mit ihren Versuchen der Beeinflussung früher eine klare Botschaft: Sie wollte, dass wir alle gute Kommunisten werden. Heute werden beliebige Meinungen unterstützt, nur um Unzufriedenheit zu schaffen - das ist ganz schwer einzufangen. Aber die Folgen dieser Unzufriedenheit davon sehen Sie etwa an der Ermordung des Politikers Walter Lübcke oder am Anschlag auf die Synagoge in Halle.
"Benötigen Befähigung, mit Informationen umzugehen"
tagesschau.de: Wie kann man sich dagegen schützen?
Marahrens: Wir benötigen eine grundlegende Befähigung, mit Informationen umzugehen, insbesondere in den sozialen Medien. Da gibt es verschiedene Initiativen, Bürger und Bürgerinnen, insbesondere Jugendliche zu informieren und zu befähigen, Falschinformation, Desinformation, aber auch Informationen, die in einem falschen Kontext gesendet werden, als solche zu identifizieren. Aber wir sind mitten in einer hybriden Auseinandersetzung - da wird jeden Tag etwas Neues ausprobiert.
Auch bei der Abwehr von anderen Arten von Angriffen müssen wir sehr viel auf Flexibilität setzen und die Menschen dafür sensibilisieren, auch auf kleine Anomalien in ihrem normalen Umfeld zu achten.
Cybersicherheit etwa ist kein Zustand, den sie erreichen können, sondern eine sich permanent dynamisch verändernde Lage. Was man heute abwehren konnte, wird morgen mit einer anderen Maßnahme erneut probiert. Und darauf muss man sich vorbereiten. Sie müssen sehr viel auf Flexibilität setzen.
"Gegner, den ethische Grenzen nicht interessieren"
tagesschau.de: Und kann man sich vor Angriffen auf unsere physische Infrastruktur schützen?
Marahrens: Da ist eine große Herausforderung. Es gibt nie 100 Prozent Sicherheit. Auch hier geht es darum, sich für Auffälligkeiten zu sensibilisieren. Und in der Politik gibt es zurzeit die Diskussion darüber, was als kritische Infrastruktur definiert wird. Wie schützen wir das? Aber auch: Sollten solche kritischen Infrastrukturen ausfallen, welche Pläne haben wir dann in den Kommunen und in Firmen? Wir sind in Deutschland auf einem positiven Weg, wir haben das Problem erkannt.
Nur haben wir einen Gegner, den unsere ethischen Grenzen nicht interessieren und der in allen Bereichen unterwegs ist, dies schließt selbst die Ermordung von Regimegegnern in unseren Ländern mit ein.
"Russland plant, eigene Weltordnung aufzubauen"
tagesschau.de: Die deutschen Geheimdienste warnten auch davor, dass Russland spätestens Ende des Jahrzehnts zu einem konventionellen Angriff auf den Westen in der Lage sein wird. Teilen Sie diese Einschätzung?
Marahrens: Russland steht jetzt vor der Situation, dass sie massive Verluste in der Ukraine erleiden. Diese müssten sie erst mal ausgleichen. Das gibt uns Zeit.
Aber es ist reichlich bekannt, dass Russland plant, eine eigene Weltordnung aufzubauen, gegebenenfalls mit China. Das wird ja von ihnen auch permanent postuliert. Und dazu gehört bei Russland am Ende auch der Einsatz von Militär.
Der russische Generalstabschef schrieb schon 2012 in einem Artikel, dass 80 Prozent aller Konflikte in der Zukunft mit nichtmilitärischen Mitteln gefochten werden. Das ist das, was wir im hybriden Umfeld erleben. Aber dann bleiben immer noch diese 20 Prozent. Mit den hybriden Angriffen auf uns sehen wir ähnliche Dinge, wie jene, die in der Ukraine gelaufen sind - bevor Russland dann die Invasion begann.
"Hybride Operationen mit militärischen Mitteln abschließen"
tagesschau.de: Was sind denn Russlands Pläne?
Marahrens: Der Plan ist, hybride Operationen auch mit militärischen Mitteln abschließen zu können, wie sie das nennen. Die Einzelplanung in Moskau kann ich Ihnen nicht sagen. Aber schauen Sie sich an, wie die baltischen Staaten ihre Verteidigung aufbauen, wo wir ja mit einer Brigade in Litauen unterstützen. Dort versucht Russland, eine Schwachstelle im europäischen System zu finden, um dort Tatsachen zu schaffen, die Europa destabilisieren würden.
Aber der russische Generalstabschef könnte am Ende auch der Meinung sein, dass ein Angriff aufs Baltikum zu gefährlich ist, weil da schon die ganze NATO präsent ist - und er sich daher eine andere Schwachstelle aussucht. Das kann keiner vorhersagen. Und deswegen ist es wichtig, dass die NATO sich in Gänze auf die Verteidigung vorbereitet und nicht nur einzelne Schwerpunkte setzt.
"Es ist eine erste Drohung"
tagesschau.de: Was bezweckt Russland mit Aktionen wie der Kartierung kritischer Infrastruktur in der Ostsee? Geht es um kleinere Sabotageakte oder um Vorbereitungen auf militärische Aktionen?
Marahrens: Zunächst ist es ein Signal: Wir schauen uns an, wie ihr aufgestellt seid. Es ist eine erste Drohung. Wir unterschätzen das Austauschen dieser Art von Nachrichten: Wir zeigen euch, dass wir wissen, wo eure Kabel sind.
Man hat ja auch schon welche zerstört, vergangenes Jahr, als ein chinesisches Schiff mit dem Anker runter 200 Meilen rückwärts gefahren ist, um zu zeigen: Wir wissen, wo Schwachpunkte sind und wir gucken uns das ganz genau an. Es ist sogenanntes Signalling. Aber natürlich wissen sie damit auch, wo sie später einmal angreifen könnten.
"Psychologischen Aspekte schwierig vorherzusagen"
tagesschau.de: Was genau soll dieses Signalling bewirken?
Marahrens: Russland bezweckt damit, dass in westlichen Staaten der Blick sich weg vom Krieg in der Ukraine nach innen richtet. Dass diese sagen, wir müssen jetzt Ressourcen dafür einsetzen, dass wir unsere kritische Infrastruktur schützen - sodass wir dann weniger Möglichkeiten haben, die wir der Ukraine zur Verfügung stellen können.
Das vermeintliche Schüren allgemeiner Kriegsangst ist dagegen schwierig. Es funktioniert vielleicht in Deutschland. Aber sowas kann auch zurückfeuern. Diese psychologischen Aspekte sind immer sehr schwierig vorherzusagen.
Das sieht man in den baltischen Staaten, aber auch in Schweden und Finnland. Als man anfing, Russland als Bedrohung wahrzunehmen, hat die Bevölkerung ja die Regierung unterstützt und gesagt: Wir wollen der NATO beitreten, wir wollen unsere Freiheit behalten - und hat damit das Gegenteil davon getan, was man sich auf der anderen Seite erhofft hat.
Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de.