Überblick Die dringendsten Baustellen der EU
Klimaschutz, Brexit, Migration: Die Europäische Union steht vor großen Herausforderungen. Nicht alle Probleme kann Brüssel lösen. Was kann die EU tun, wo liegen die Knackpunkte? Ein Überblick.
Sind die Personalfragen der Europäischen Union erst einmal gelöst, warten ihre Hauptaufgaben: Die Mitgliedsstaaten müssen entscheiden, wie sie nach dem Brexit mit Großbritannien verbleiben, wie ihre Außenhandelsstrategie in Zeiten von US-Strafzöllen und der "Neuen Seidenstraße" aussehen soll und wie die Auswirkungen des Klimawandels auf Europa eingedämmt werden können.
Zu klären sind auch Grundsatzfragen: Sollen die Kompetenzen der EU-Institutionen oder die der Nationalstaaten gestärkt werden? Welchen Aufgaben räumt die EU in der Finanzplanung den Vorrang ein? Und wie soll sie künftig für ihre Sicherheit sorgen - mit mehr Bündnisengagement oder einer "Europäischen Armee"? Ein Überblick.
Klimakrise und Umweltschutz
Gelingt es der EU nicht, ihre Treibhausemissionen zu senken und bei ihrer Energienutzung und Müllverwertung effizienter zu werden, verschärfen sich langfristig auch alle anderen Probleme: In den vergangenen vier Jahrzehnten kostete die Klimakrise die Europäer laut EEA bereits 400 Milliarden Euro - und auch klimabedingte Veränderungen außerhalb Europas können sich auf den Kontinent auswirken, wenn Fluchtbewegungen aus kaum mehr bewohn- und bewirtschaftbaren Erdregionen einsetzen.
Neben internationalen Zielsetzungen wie dem Kyoto-Protokoll und dem Pariser Klimaabkommen hat sich die EU selbst beim "20-20-20-Ziel" vorgenommen, bis 2020 die Treibhausemissionen zu senken, den Anteil erneuerbarer Energien zu steigern und die Energieeffizienz zu verbessern - jeweils um 20 Prozent. Außerdem will sie ihr Emissionshandelssystem auf den Prüfstand stellen. Schon 2013 hat sie außerdem eine "Anpassungsstrategie" an den Klimawandel mittels Wassersparen, Änderungen in der Bauordnung und der Entwicklung dürreresistenter Pflanzen vorgestellt. Die Umsetzung ist allerdings Sache der Mitgliedsstaaten.
Der Brexit - und danach
Bis zum 31. Oktober 2019 muss Großbritannien nach dem Willen des Europäischen Rats die EU verlassen - es sei denn, das Land zieht sein Austrittsgesuch noch zurück oder die Austrittsfrist wird verlängert. Nach jetzigem Stand sollen die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien während einer verlängerbaren Übergangsfrist ebenso gewährleistet sein wie die der Briten auf dem Kontinent. Doch wie die 27 EU-Staaten und "das andere Europa" auf der Insel künftig tatsächlich zusammenleben werden, ist noch immer unklar. Wissenschaftler mit befristeten Verträgen ziehen ebenso wie Wirtschaftsunternehmen längst ihre eigenen Konsequenzen und wandern ab. Noch empfindlicher trifft die Unsicherheit die etwa 500.000 Bürger aus Osteuropa, die derzeit im Vereinigten Königreich in niedrig qualifizierten Jobs arbeiten und Geld in ihre Heimatländer schicken.
Die EU-Kommission schließt derzeit einen ungeordneten Austritt nicht aus und ruft alle Mitgliedsstaaten und Investoren dazu auf, die Zeit bis Oktober zur Vorbereitung zu nutzen. Für die Zeit nach dem Brexit hat sich das Europaparlament bereits für ein EU-Assoziationsabkommen mit Großbritannien ausgesprochen, das ein Freihandelsabkommen und Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik und Forschung vorsieht. Die EU muss ihr Verhältnis zu Großbritannien zügig klären - auch, weil nach dem Brexit die Karten in Brüssel neu gemischt werden: Nicht nur Frankreich verspricht sich davon einen gesteigerten Einfluss in der EU. Und dass auf alle 27 Staaten höhere Haushaltsausgaben für die EU zukommen, ist schon gewiss.
Handelsstreit und Wirtschaftspartner
Zusammengenommen bilden alle 28 Mitgliedsstaaten den stärksten Wirtschaftsraum der Welt, wie die EU-Kommission voller Stolz betont. Doch sie steht unter Druck: Die USA sind ihr wichtigster Exportpartner, gefolgt von China – bei den Importen in die EU tauschen beide Partner die Plätze. Der von US-Präsident Donald Trump betriebene Handelsstreit trifft die EU empfindlich. Denn die USA drohen nicht nur der EU mit Zöllen und setzen sie als Druckmittel bei der WTO ein, sondern streiten auch mit der Volkswirtschaft China um Absatzzahlen. Zugleich zeigt China immer offener sein neues Selbstverständnis als Weltmacht und versucht sich unter anderem mit dem Projekt "Neue Seidenstraße" den Absatzmarkt Europa zu sichern. Aus Sorge vor möglichen wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten von Peking reagiert die EU bislang zurückhaltend - doch Einzelstaaten wie Griechenland und Italien sind bereits ausgeschert und haben sich chinesische Bauprojekte zu Sonderkonditionen gesichert.
Ob die EU auf die US-Provokationen eingeht und sich etwa auf Handelsquoten einlässt, hat ebenso Konsequenzen wie die Frage, ob sie Kooperationen mit China auch zum Preis erzwungener Technologietransfers und einer möglichen Überwachung der Mobilfunktechnologie weiterverfolgt. Einer Rivalität mit der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft der Welt wäre die EU-Wirtschaft jedenfalls nicht gewachsen. Die EU versucht bereits, ihren Handel mit anderen Wirtschaftspartnern zu intensivieren: Unter anderem hat sie Abkommen mit Japan und Mexiko geschlossen und verhandelt mit Indien, Australien und den Mercosur-Staaten. Doch das ist aufgrund ihrer schieren Vielzahl mühsam.
Migration und Solidarität
Nicht erst seit der zeitweisen Festnahme von "Sea-Watch 3"-Kapitänin Carola Rackete fordern Politiker aus West- und Zentraleuropa eine gemeinsame europäische Lösung für den Umgang mit Migranten. Zwar gelten durch das gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) für alle Länder Mindeststandards bei Asylverfahren und auch die Zuständigkeit für Asylanträge ist festgelegt - doch die Einzelstaaten setzen die meist unverbindlichen Richtlinien sehr verschieden um. Die Visegrad-Länder ziehen nicht mit und auch Italien stellt sich zunehmend gegen die Aufnahme von Migranten. Die Folge sind Spannungen innerhalb der EU und eine höhere Versorgungslast für die übrigen Länder.
Gelingt es der EU-Kommission nicht, alle Staaten gleichermaßen zur Anwendung des EU-Asylrechts zu bringen, muss sie die Einhaltung durch Rechtsverfahren und Sanktionen durchsetzen und dadurch Stärke zeigen. Derzeit klagt die EU-Kommission gegen Tschechien, Ungarn und Polen vor dem Europäischen Gerichtshof. Zugleich muss sie Bürgern dieser Staaten vermitteln, dass die Durchsetzung von EU-Recht für sie keinen Nachteil bedeutet - und sie selbst von Migration profitieren: Etwa leben in polnischen Asylbewerberheimen nur wenige Hundert Menschen, während zugleich fast zwei Millionen Ukrainer meist in niedrig bezahlten Handwerksberufen in Polen arbeiten.
Eine weitere Baustelle ist die vielbeschworene Bekämpfung von Fluchtursachen. Die EU muss Hilfsgelder dabei reflektiert einsetzen: An den bestehenden "Migrationspartnerschaften" mit nordafrikanischen Einzelstaaten, für die die EU 2,4 Milliarden Euro ausgibt, kritisieren Menschenrechtler immer wieder, dass sie etwa in Libyen menschenunwürdigen Bedingungen in Migrantenlagern Vorschub leisteten.
Verteidigung und Sicherheit
Unter Jean-Claude Juncker forcierte die EU-Kommission die Bildung einer gemeinsamen "Europäischen Armee". Mit den militärischen Aktivitäten Russlands in der Ukraine hat die Idee Auftrieb bekommen. Den USA gefällt die Idee gar nicht: Schließlich wäre eine Europäische Armee mit 2,15 Millionen Streitkräften der US-Army zahlenmäßig überlegen. Und auch, dass bislang nur sechs EU-Länder das Zwei-Prozent-Militärausgabenziel erreichen, kommt in Washington nicht gut an.
Die EU muss zwischen Bündnisverpflichtungen und dem Ziel einer engeren militärischen Vernetzung ihrer Mitgliedsstaaten balancieren. Strebt sie weiterhin eine Europäische Armee an - und wollen alle Staaten dabei mitziehen -, hat sie auf dem Weg dahin mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen: Der maroden Ausrüstung vieler Streitkräfte wie der Bundeswehr, einer Anpassung von Kommandostrukturen und Logistikprozessen - und der Gefahr, Mitglieder wie die baltischen Staaten zu verprellen, die ein intensives NATO-Engagement als Abschreckung gegen ihren gemeinsamen Nachbarstaat Russland begrüßen.
Gleichstellung der Geschlechter
Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist einer der erklärten Grundwerte der EU. Doch dem "Gender Equality Index" des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE) zufolge hat die EU sie tatsächlich erst zu 66 Prozent verwirklicht. Die EU-Agentur stellte beim statistischen Vergleich gleichbleibend große Unterschiede zwischen den Einzelstaaten fest: Am emanzipiertesten ist demnach Schweden mit 83 Prozent, am weitesten zurück liegt Griechenland mit 50 Prozent. Der Zugang zu Bildung, finanziellen Mitteln, Zeit und Führungspositionen ist damit auch in der EU noch immer nicht vom Geschlecht unabhängig.
Zur Herstellung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen hat sich die EU zuletzt im "Aktionsplan für die Gleichstellung der Geschlechter für den Zeitraum 2016-2020" verpflichtet. Demnach sollen die Mitgliedsstaaten durch Gesetzes- und Förderungsmaßnahmen die Lohnlücke schließen, mehr Frauen zu Entscheidungsträgern machen und gezielt gegen frauenfeindliche Gewalt vorgehen. Der Umsetzung räumen die einzelnen Länder aber unterschiedlich hohe Priorität ein. In vielen gibt es auch Kampagnen gegen die Ziele, die im Widerspruch zu nationalen Werten stünden. Die EU-Institutionen stehen vor der Herausforderung, ihre Mitgliedsstaaten vom nationalen Engagement für mehr Gleichstellung zu überzeugen - denn verordnen kann sie es nicht.
Demografischer Wandel
Die europäische Bevölkerung altert rasant: Die Geburtenrate und der Anteil junger Menschen sinken, zugleich erreichen immer mehr Europäer ein hohes Lebensalter. 2017 lag das Medianalter in der EU bei 42,8 Jahren, auf jede Person über 65 Jahren kamen nur noch drei Personen im erwerbsfähigen Alter. Bis 2050, wenn die EU-Bevölkerung mit 529 Millionen Menschen ihren Höchststand erreichen wird, werden es wohl nur noch zwei Erwerbsfähige pro Rentner sein, eine steigende Geburtenrate wird im gleichen Zeitraum nicht erwartet. Somit werden die Ausgaben zur Sicherung von Renten, medizinischer Behandlung für altersbedingte Krankheiten und Altenpflege immer weiter steigen; zugleich stehen immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung, die die Pflegearbeit übernehmen können.
Um den finanziellen Auswirkungen des demografischen Wandels gegenzusteuern, kann sich die EU lediglich dafür stark machen, dass Mitgliedsstaaten ihre Geburtenrate durch gezielte Familienförderung wieder steigern und die Lücken in der erwerbsfähigen Bevölkerung durch Zuwanderung schließen. Darüber, ob eine bessere Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf oder die Belohnung von Mutterschaft und Hausfrauenehen die Geburtenrate steigern soll, gehen die Meinungen unter den Mitgliedsstaaten allerdings weit auseinander.
Auch dem Anwerben von Fachkräften aus Drittstaaten stehen die einzelnen Länder unterschiedlich gegenüber: Zwar gehört Multiethnizität längst zur europäischen Realität, doch rassistische und fremdenfeindliche Vorstellungen wirken sich in vielen Gesellschaften negativ auf die Integration aus.
Digitalisierung
Eine umfassende Digitalisierung der EU ist dringend notwendig. Breitband-Internetversorgung ist die Voraussetzung, um als Standort der digitalisierten Wirtschaft relevant zu sein und die Mobilität in den wachsenden EU-Metropolregionen zu erhalten. Vorreiter in der EU sind die baltischen Staaten, die sich mit Entwicklungsräumen für Startups und digitalisierten Behördenvorgängen bis hin zur Wahlabstimmung profiliert haben. Deutschland bewegt sich im Mittelfeld. Solche Ungleichheiten im digitalen Fortschritt sind ein Hindernis beim wirtschaftlichen Austausch innerhalb der EU.
Die EU-Kommission hat deshalb die Entwicklung eines digitalen Binnenmarkts zur Priorität erklärt. Der Breitbandausbau bis 2025 und ein Aktionsplan für den Mobilfunkstandard 5G gehören ebenso dazu wie die umstrittene Reform des EU-Urheberrechts. Margarethe Vestager hat sich als EU-Wettbewerbskommissarin gegen die Steuerflucht großer Digitalkonzerne in der EU eingesetzt. Ob die EU-Finanzminister diese Linie weiterverfolgen oder aus Angst vor dem Rückzug von Apple, Amazon und Google aus ihren Ländern davon Abstand nehmen, ist noch nicht geklärt. Denkbar ist eine stärkere Einbindung von Digitalkonzernen in den Ausbau, etwa durch gesponserte kostenlose WLAN-Hotspots. Doch hier müssen die EU-Staaten den Nutzen gegen mögliche Abhängigkeiten abwägen - und die EU-Institutionen überlegen, ob sie regulierend in solche Kooperationen eingreifen.
Eine wichtige Aufgabe ist auch der Schutz vor Hackerangriffen, Datendiebstahl und Desinformationskampagnen. Instrumente wie die Datenschutzgrundverordnung müssen umgesetzt und an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Ob die EU ein europaweites Pendant zum deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz entwickeln will, das Betreiber sozialer Netzwerke bei der Löschung von Hassbotschaften in die Verantwortung nimmt, ist eine weitere Grundsatzfrage.
Innere Spaltung überwinden
In fast allen EU-Staaten haben rechtspopulistische Bewegungen an Einfluss gewonnen. In etlichen Mitgliedsstaaten führen sie sogar die Regierungsgeschäfte und nutzen ihren Einfluss, um Stimmung gegen Brüssel zu machen und sich geltendem EU-Recht zu widersetzen. Im Europaparlament blieb ein rechter Erdrutschsieg bei der Wahl im Mai zwar aus - doch bislang gelingt es der EU kaum, rechtspopulistischer Stimmungsmache überzeugend etwas entgegenzusetzen. Erste Ansätze zeigte etwa die Kampagne "What Europe Does For Me" vor der Europawahl: Ein Netzportal, das EU-Förderungsprojekte nicht auf nationalstaatlicher Ebene, sondern in einzelnen Regionen und Lebensbereichen der Nutzer verortete. Um innere Konflikte zu überwinden, muss die EU weitere Strategien entwickeln, der Bevölkerung ihren Nutzen vermitteln und etwa die Perspektive und Bedürfnisse der Osteuropäer stärker einbinden.
Über allem steht aber die zu klärende Grundsatzfrage, wohin die EU auf dem Weg ist: Strebt sie eine Art "Vereinigte Staaten von Europa" an, wie sich Ursula von der Leyen einst ausdrückte, oder wollen die Nationalstaaten sie lediglich als Vermittlerebene und Kooperationsraum sehen? Alle EU-Mitglieder wollen Europa - aber nicht alle meinen damit das gleiche.
Verteilung von Finanzmitteln
Die Erwerbslosenquote in der EU ist mit 6,5 Prozent auf einem historischen Tiefststand seit 2000. Doch in Griechenland hat sich der Arbeitsmarkt bis heute nicht von der Finanzkrise erholt: Dort liegt die Arbeitslosenquote mit 18 Prozent EU-weit am höchsten, gefolgt von Spanien und Italien. Bei den jungen Menschen unter 25 Jahren ist sie zwei- bis dreimal so hoch. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit verschärft aber weitere Probleme der EU: Sie führt zur Abwanderung in Megastädte; die zurückgelassenen Gegenden bleiben in einem strukturschwachen Zustand gefangen. Dauerhafte Ungleichheit provoziert Unmut und ein Gefühl des Abgehängtseins, das junge Europäer wiederum anfälliger für EU-Skepsis und populistische Parolen machen kann.
Nicht nur um als "soziales Europa" ihren Grundwerten gerecht zu werden, muss die EU sich daher überlegen, wie sie gleichwertige Lebensverhältnisse schafft. Der mehrjährige Finanzrahmen für 2012 bis 2027 muss diesen Bedarf abbilden.