Hohe Löhne, sinkende Produktivität Inflation in Großbritannien außer Kontrolle?
Während in der EU die Inflationsraten auf dem Rückzug sind, kämpfen die Briten mit hartnäckig hohen Preisen. Das liegt auch an den hohen Löhnen auf der Insel - und dem Brexit.
In ganz Europa ist die Inflation auf dem Rückzug. Ganz Europa? Nein, auf einer Insel im Atlantik leistet die Teuerung Widerstand. In Großbritannien stiegen die Verbraucherpreise im Mai - wie schon im April - um 8,7 Prozent. Diese Entwicklung kommt auch für Expertinnen und Experten überraschend, hatten Bankökonomen doch im Vorfeld mit einem Rückgang der Inflationsrate auf 8,4 Prozent gerechnet.
Ganz anders die Entwicklung in der Eurozone: Dort waren die Verbraucherpreise im Mai nur noch um 6,1 Prozent gestiegen nach 7,0 Prozent im April. Fachleute gehen davon aus, dass der Höhepunkt der Inflation im Euroraum nun überschritten ist. Für Großbritannien sind Ökonomen allerdings weit weniger optimistisch.
Vor allem die Kerninflation bereitet ihnen Sorgen, also die Entwicklung der Verbraucherpreise unter Herausrechnung der volatilen Energie- und Lebensmittelpreise. Die britische Kerninflation stieg im Mai von 6,8 auf 7,1 Prozent - so stark wie seit März 1992 nicht mehr.
Es liegt nicht an den Energiepreisen
Warum aber bekommen die Briten ihre Inflation nicht in den Griff? Was machen sie anders als die Europäer auf dem Festland? Fakt ist: An den Energiepreisen kann es nicht liegen, diese sinken - in Großbritannien wie auch in den Ländern der Europäischen Union.
Doch es gibt noch weit mehr Inflationsfaktoren als die Preise für Gas und Öl. Experten verweisen daher auch auf hausgemachte Probleme. So haben Politiker wie Notenbanker die Angebotslücke auf dem britischen Arbeitsmarkt lange Zeit unterschätzt. Zuletzt lag die Zahl der offenen Stellen mit mehr als einer Million weiter auf hohem Niveau. Einer Auswertung des nationalen Büros für Statistiken zufolge haben während der Pandemie rund 300.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter den Arbeitsmarkt verlassen und sind nicht wieder zur Arbeit zurückgekehrt.
Arbeitskräftemangel zieht höhere Löhne nach sich
Es gibt Anzeichen dafür, dass der Arbeitskräftemangel in Großbritannien ausgeprägter ist als in der Eurozone. Egal ob Erntehelfer, Bauarbeiter, Ärztinnen und Ärzte oder IT-Fachkräfte: Vor allem im Dienstleistungssektor suchen britische Firmen nach dem Brexit händeringend nach Personal. Das hat Folgen - für das britische Wirtschaftswachstum, das stark ausgebremst wird - aber auch für die Lohnentwicklung. Denn auf einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt steigen die Löhne überdurchschnittlich stark, was wiederum die Inflation antreibt.
Wie vor einer Woche bekannt wurde, waren die Löhne in Großbritannien im ersten Quartal dieses Jahres im Schnitt um beachtliche 7,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen - und damit deutlich stärker als von der Bank of England erwartet. Zum Vergleich: In Deutschland, der größten Volkswirtschaft des Euroraums, zogen die Nominallöhne im ersten Quartal um 5,6 Prozent an.
Niedrigere Arbeitsproduktivität seit Brexit
"Obwohl die Arbeitnehmer in Großbritannien pro Arbeitseinheit mehr verdienen als in den Nachbarländern der Eurozone, ist die Produktivität der britischen Arbeitnehmer im Durchschnitt geringer", gibt Tomasz Wieladek, Chefvolkswirt für Europa bei T. Rowe Price, zu bedenken. "Nach unserer Einschätzung ist dies vermutlich eine Folge des deutlich schwächeren Investitionswachstums in Großbritannien seit dem Brexit."
Höhere Löhne bei gleichzeitig sinkender Arbeitsproduktivität - da sind hohe Inflationsraten programmiert. Kein Wunder also, dass der Chef der Bank of England, Andrew Bailey, nach der jüngsten Lohnstatistik sogleich prognostizierte, dass die Inflation wohl langsamer sinken werde als gedacht. Ipek Ozkardeskaya, Senior Analystin bei Swissquote Bank, erklärt mit Blick auf die aktuellen Inflationsdaten, dass der Inflationsdruck im Vereinigten Königreich nicht unter Kontrolle sei. An weiteren Zinserhöhungen führe daher kein Weg vorbei.
Eine Gratwanderung für die Notenbank
"Während nahezu überall anders über ein baldiges Ende der Zinserhöhungszyklen diskutiert wird, scheint ein solches in Großbritannien noch weiter weg zu sein", betont denn auch You-Na Park-Heger. Die Devisen-Analystin der Commerzbank spricht von einer "Sondersituation" für die Bank of England. Diese dürfte auf ihrer morgigen Sitzung den Leitzins erneut in die Höhe schrauben - mindestens um 25 Basispunkte; wobei nach den heutigen Inflationsdaten an den Märkten auch über einen großen Zinsschritt von 50 Basispunkten spekuliert wird.
Es ist eine Gratwanderung. Mit einer zu strikten Geldpolitik riskiert die britische Notenbank, die ohnehin schon schwächelnde Wirtschaft auf der Insel komplett abzuwürgen. Doch womöglich braucht es ja genau das - eine Rezession -, um die hartnäckige Inflation im Vereinigten Königreich endlich zu bändigen.