Verschiedene Waren eines Weihnachtseinkaufs liegen auf einem Kassenband an der Kasse in einem Supermarkt.
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Zentralbank vor Zinssenkung Kann die EZB die Inflation bezwingen?

Stand: 12.12.2024 06:00 Uhr

Die Inflation in der Eurozone zieht wieder an: schleichend, aber hartnäckig. Die Zentralbank rätselt über die Ursachen - und dürfte erneut die Zinsen senken. Kritiker werfen der EZB Fehler in der Geldpolitik vor.

Es weihnachtet sehr, auch bei der Europäischen Zentralbank (EZB): Strahlend und glitzernd steht, wie jedes Jahr, der eindrucksvolle Weihnachtsbaum vor dem Eurotower am Frankfurter Mainufer. Dieses Jahr scheint er noch heller zu strahlen. Wie überall im Land: Wenn die Konjunktur im Keller ist, in vielen Branchen Arbeitslosigkeit droht und der Himmel grau und trübe ist, soll die überall üppig funkelnde Weihnachtsbeleuchtung offenbar einen Hoffnungsschimmer senden.

EZB-Zinsentscheidung

Klaus-Rainer Jackisch, ARD-Finanzredaktion, tagesschau24, 12.12.2024 09:00 Uhr

Viel mehr als so einen Schimmer hat auch die EZB in diesem Jahr nicht vollbracht. Zwar ist es den Währungshütern gelungen, die Inflation einigermaßen in Schach zu halten. Doch die meiste Zeit lag die Teuerung weiterhin über der Zielmarke von zwei Prozent. Die "gefühlte Inflation" hat sich kaum abgeschwächt. Schlimmer noch: Seit dem Herbst geht der Trend wieder nach oben und dürfte auch im neuen Jahr anhalten.

Das "Biest Inflation" sei noch nicht besiegt, wie EZB-Präsidentin Christine Lagarde es den rund 350 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern der Eurozone wortgewaltig versprochen hatte. Die EZB habe zwar viel erreicht, aber "wir haben das Genick noch nicht völlig gebrochen", so Lagarde auf der vergangenen Pressekonferenz. "Aber wir sind auf dem Weg dorthin."

Kerninflation bleibt hoch

Tatsächlich ist die Prognose eher ernüchternd: Seit dem kurzen Tief der Inflationsrate im September mit 1,7 Prozent zieht die Teuerung in der Eurozone wieder an, auf 2,3 Prozent im November. Für Dezember und Januar werden noch höhere Raten erwartet. Vor allem bei Nahrungsmitteln gibt es kaum Entspannung.

Bei Dienstleistungen ist die Teuerung fast konstant viel zu hoch und pendelt in engen Bahnen um die vier Prozent. Vor allem Touristik-Anbieter, Versicherungen, aber auch viele Handwerker tun ihr Bestes, um die Teuerung in diesem Sektor hochzuhalten. Sie verdienen entsprechend glänzend.

Auch die sogenannte Kerninflation, die normalerweise schwankungsanfällige Preise für Energie und Nahrungsmittel herausrechnet, ist mit 2,7 Prozent hartnäckig und viel zu hoch. Etwas günstiger sind Flachbildschirme, Waschmaschinen und Rührmixgeräte geworden. Doch wer kauft die schon ständig? Unter dem Strich ist die Inflationsbekämpfung weiterhin nicht zufriedenstellend.

De-Globalisierung treibt Teuerung

Interessant in der Analyse ist, dass potentielle Inflationstreiber nicht den großen Effekt haben, den man erwarten könnte. So haben etwa die sehr hohen Lohnabschlüsse überall in Europa in den vergangenen Monaten den Konsum zwar etwas belebt - aber nicht in dem Maße, wie das normalerweise der Fall wäre. Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und düstere Konjunkturaussichten stecken den Menschen so stark in den Knochen, dass sie auf Nummer sicher gehen und die Mehreinnahmen lieber auf die hohe Kante legen als sie zu verpulvern. Auch dies ist ein Grund für die lahmende Konjunktur.

Den Währungshütern bereitet das Kopfzerbrechen - zeigt es doch, dass andere Faktoren offenbar einen größeren Einfluss auf die Teuerung haben als die klassischen. So scheint die De-Globalisierung die Teuerung offenbar stärker anzufachen als bislang erwartet. Der Trend, sich vor unliebsamer Konkurrenz mit Zöllen und Abschottung zu schützen, kommt die Volkswirtschaften teurer zu stehen als den Menschen lieb sein kann.

Auch die weiterhin bestehenden Lieferengpässe schlagen zu Buche: Die Schifffahrt rund um Afrikas Kap der Guten Hoffnung statt durch den Suez-Kanal verursacht mindestens ein Drittel mehr Seetage. Das kostet richtig Geld und treibt die Inflation an.

Drei statt zehn Prozent Inflation?

Hinzu kommt, dass die EZB andere Teuerungsfaktoren zu sehr unterschätzt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, dessen Chef Marcel Fratscher eigentlich eher als EZB-freundlich gilt, stellt den Währungshütern ein wenig rühmliches Zeugnis aus. Sie hätten demnach den massiven Inflationsschub, der mit 10,6 Prozent im Oktober 2022 seien Höhepunkt fand, nicht nur verhindern können. Sie hätten ihn sogar mit verursacht, so das Fazit der Studie.

Hätte die EZB die Zinsen schneller und konsequenter erhöht, wäre die Inflationsrate nach Berechnung der Forscher nur auf maximal drei Prozent gestiegen - also auf weniger als ein Drittel der tatsächlichen Entwicklung. So habe die EZB insbesondere beim Einfluss der Energiepreise auf die Teuerung völlig falsch reagiert. Statt zu argumentieren, auf diesen Sektor habe Geldpolitik ohnehin keinen Einfluss, hätte die EZB mit einer schnelleren Erhöhung der Zinsen die Nachfrage nach dem Rohstoff reduziert und den Außenwert des Euro deutlich erhöht.

Zweifel an weiteren Zinssenkungen

Das hätte Energieeinfuhren, die weltweit fast ausschließlich in Dollar abgerechnet werden, billiger gemacht und die Inflation weniger angetrieben. In der Folge hätte dies auch Spekulationen aus dem Markt genommen und die Preise angesichts der ohnehin hochgradig angespannten Situation weniger angefacht. "Ein klares Bekenntnis zur Inflationsbekämpfung (...) hätte den Inflationsdruck so gesenkt, dass die Inflation nach dem russischen Angriffskrieg nicht so stark gestiegen wäre", schreibt Studien-Autor Ben Schumann.

Unter dem Strich erteilt das DIW der EZB ein fatales Zeugnis hinsichtlich der Auswirkungen ihrer Geldpolitik. Doch hinterher ist man natürlich immer schlauer, und in Extrem-Situationen machen auch Währungshüter Fehler. Vielleicht könnten sie aber daraus lernen, argumentieren Kritiker der gegenwärtigen EZB-Geldpolitik. Es gibt jedenfalls bei vielen Volkswirten Zweifel, ob weitere kräftige Zinssenkungen wirklich angebracht sind. So argumentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer schon vor der letzten EZB-Rats-Sitzung: "Die EZB sollte die Zinsen nicht zu schnell senken."

DAX-Rekord nach Zinsspekulationen

Trotzdem wurde angesichts der schwachen Konjunktur in den vergangenen Wochen an den Finanzmärkten immer wieder spekuliert, Europas Zentralbank würde in dieser Woche die Leitzinsen um einen weiteren halben Prozentpunkt senken - mit dem Ziel, die lahmende Wirtschaft anzukurbeln. All dies ist ein Grund, warum Anleger am deutschen Aktienmarkt schon die Sektkorken knallen ließen und der Deutsche Aktienindex deutlich über die 20.000-Punkte-Marke sprang. Mittlerweile allerdings ist zumindest ein bisschen Realität zurückgekehrt. Nun wird nur noch eine Senkung um einen Viertelprozentpunkt erwartet.

Doch selbst dieser Schritt ist angesichts der hartnäckigen Inflation nicht unumstritten. Dies umso mehr, als völlig fraglich ist, ob Zinssenkungen die Wirtschaft wirklich ankurbeln. Diesem Hauptargument der Befürworter eines solchen Schrittes steht die Tatsache gegenüber, dass Unternehmen in der Eurozone im Moment zwar alle mögliche Hilfe gebrauchen könnten. Zinssenkungen dürften sie aber kaum dazu bewegen, große Investitionen zu tätigen. Denn an den strukturellen Problemen der Wirtschaft - schlechte Infrastruktur, hohe Steuern und Abgaben, überbordende Bürokratie - ändert das auch nichts.  

Zinsen sollten sich nicht verändern

Wesentlich vielversprechender wäre da eine konsequente Bekämpfung der Inflation: Sie würde den Bürgerinnen und Bürgern in der Eurozone wieder mehr Vertrauen und Gelassenheit geben, mit der Folge, dass sie die höheren Löhne auch in den Konsum stecken. Mehr Nachfrage führt dann automatisch zu einer Belebung der Konjunktur. Fazit: Die EZB müsste eigentlich gar nichts machen und die Zinsen unverändert lassen.

Das meint auch der Ökonom Gustav Horn, auch er ansonsten nicht gerade der Freund einer straffen Geldpolitik. In einem Beitrag des Online-Magazins "Makronom" warnte Horn vor einem anhaltenden Inflationsdruck. In Anlehnung an das "Biest"-Zitat von Lagarde kommt er zu dem Schluss: "Das Monster lebt."