Diskussion über Vier-Tage-Woche Kürzer arbeiten - mehr leisten?
In den aktuellen Tarifrunden fordern mehrere Gewerkschaften eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Doch kann sich unsere Gesellschaft das leisten?
Sascha Halweg muss ein mutiger Mann sein. Oder ein Wahnsinniger. "Wir dachten, wir machen das einfach mal. Irgendeiner muss ja den Anfang machen", so der Geschäftsführer des Tapas-Restaurants "Blümchen" in Freiburg. Denn das "Blümchen" wartet nicht nur mit Schwarzwälder Köstlichkeiten auf, sondern auch mit einem besonderen Arbeitszeitmodell: Hier arbeiten alle Teilzeit - und verdienen doch so viel, als würden sie Vollzeit arbeiten.
"Der Tarifvertrag der DEHOGA sieht eine Wochenarbeitszeit von 39 Stunden vor. Bei uns werden 31 Stunden pro Woche gearbeitet, für das gleiche Geld", erklärt Halweg. Der Grundgedanke sei gewesen, für Arbeitnehmer attraktiv zu sein. So attraktiv, dass der Betrieb laufe und er nicht, wie er es bei Kollegen in der Gastrobranche sieht, aus Personalmangel Ruhetage einführen oder gar ganz schließen müsse. Es sei eine ganz einfache Rechnung: "Was kann ich mir eher leisten: Gäste zu verlieren oder mehr zu zahlen?"
Fachkräftemangel spitzt sich zu
Denn der Fachkräftemangel ist real, nicht nur in der Gastronomie. Und er wird sich wohl noch weiter verschärfen. Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge werden bis zum Jahr 2035 mehr als sieben Millionen Erwerbstätige aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Nachwuchs? Mangelware.
Den demografischen Wandel führt auch die Gewerkschaft IG Metall in ihrer aktuellen Tarifrunde ins Feld. Um attraktiver zu sein für den Nachwuchs, fordert sie nicht nur eine Lohnsteigerung von 8,5 Prozent, sondern auch eine Arbeitszeitverkürzung von 35 auf 32 Wochenstunden - bei vollem Lohnausgleich. Nur so ließen sich Arbeitsplätze langfristig sichern, neue Fachkräfte gewinnen und die Branche zukunftssicher machen, heißt es von der Gewerkschaft. Und auch die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) verlangt eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für Beschäftigte im Schichtdienst.
Länger arbeiten statt weniger?
Forderungen, die an einer der ganz großen gesellschaftlichen Fragen rühren: Wie viel Arbeit wollen wir? Beziehungsweise: Wie wenig Arbeit können wir uns leisten?
Keine Stunde weniger, meint Michael Hüther. "Wir müssen der schrumpfenden Wirtschaft Rechnung tragen", sagt der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). "Eine Verkürzung der Arbeitszeit aber führt zu sinkender Produktivität." Bereits 2019 hat das IW deshalb einen Vorschlag gemacht, der so gar nicht in den aktuellen Diskurs der "Work Life Balance" hineinpasste: Es forderte nicht kürzere Arbeitszeiten - sondern längere.
Denn tatsächlich ist die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit aller Erwerbstätigen in Deutschland mit 34,7 Stunden im EU-Vergleich relativ niedrig. Weniger wird laut dem Statistischen Bundesamt nur in Dänemark und den Niederlanden gearbeitet. Hüther meint, man solle sich eher Länder wie Schweden oder auch die Schweiz zum Vorbild nehmen. In der Schweiz etwa werde durchschnittlich nicht nur zwei Stunden mehr pro Woche, sondern auch zwei Wochen mehr pro Jahr gearbeitet. "Wenn wir uns an die Schweiz angleichen, so würde das 7,5 Milliarden zusätzliche Arbeitsstunden pro Jahr generieren und die Produktivität erheblich steigern", so Hüther.
Momentan beträgt das deutsche Gesamtarbeitsvolumen 62 Milliarden Stunden pro Jahr. Das hört sich vielleicht viel an, ist jedoch ein vergleichsweise niedriger Stand - und dazu noch mit fallender Tendenz. Laut ifo-Institut ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland seit 1991 von rund 40 auf 45 Millionen gestiegen. Die insgesamt geleisteten Arbeitsstunden seien in dem Zeitraum jedoch gleich geblieben, sagte ifo-Präsident Clemens Fuest in einem Interview mit tagesschau.de: "Die 45 Millionen arbeiten so viel wie die 40 Millionen früher."
Herausforderung Teilzeitarbeit
Warum? Die Antwort lautet "Teilzeitarbeit". 29 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland arbeiten Teilzeit, das ist einer der höchsten Anteile im EU-Vergleich. Vor allem viele Frauen sind nicht voll erwerbstätig: Im Schnitt arbeiten weibliche Arbeitnehmer 21,4 Stunden die Woche. Nicht immer, weil sie es so wollen, sondern oft aus familiären Gründen - wegen fehlender Kinderbetreuungsangebote oder weil sie Angehörige pflegen.
Angesichts dieser Zahlen kämen die Forderungen der Gewerkschaften zur Unzeit, so IW-Chef Hüther: "Wer nun bei gleichem Gehalt seine Arbeit in vier statt in fünf Tagen zu erledigen gedenkt, müsste seine Produktivität um 20 Prozent steigern - das erscheint unrealistisch und ist, selbst wenn es in Einzelfällen gelingen sollte, eine äußerst ungesunde Arbeitsverdichtung. Gerade für Angestellte in der Stahlindustrie oder in der Pflege ist das auch schlicht nicht möglich."
"Mehr rausholen" aus den Beschäftigten?
Mehr Engagement für kürzere Arbeitszeit - das sieht auch der Gastronom Sascha Halweg so und fordert von seinen Angestellten eben dieses: mehr Produktivität. Denn wer fürs gleiche Geld weniger arbeite, der müsse eben auch besser arbeiten.
"Die Mitarbeiter im Service müssen die Speisen richtig verkaufen, müssen mehr rausholen und den Gästen ein Erlebnis bieten", so Halweg. Um das zu erreichen, müsse das ganze Team regelmäßig an Schulungen teilnehmen.
Aber der Gastronom ist realistisch - in anderen Branchen sei dieses Konzept nur schwer umsetzbar: "Ich kann aus meinen Leuten mehr rausholen. Aber ein Lokführer kann sich nur auf seinen Hintern setzen und Lok fahren. Dessen Performance wird durch eine Lohnerhöhung oder eine kürzere Arbeitszeit nicht besser."
In einer früheren Version des Textes hieß es, die durchschnittliche Wochenarbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten in Deutschland liege bei 34,7 Stunden. Korrekt ist, dass die Durchschnittswochenarbeitszeit aller Beschäftigten - also Voll- und Teilzeit - bei 34,7 Stunden liegt. Die eines Vollzeitbeschäftigten beträgt laut Statistischem Bundesamt 40,4 Stunden.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen