Studie vorgestellt Jeder fünfte Schüler wird Opfer von Cybermobbing
Mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche hierzulande sind von Cybermobbing betroffen. Meist ist der Tatort die Schule, wie aus einer aktuellen Studie hervorgeht. Doch dort wird oft zögerlich reagiert.
"Letztes Jahr kam eine Mutter auf mich zu und sagte: Hast du gesehen, dass in der Klassen-WhatsApp-Gruppe ein Video von unseren Kindern rumgeht?" Anja Rößler (Name von der Redaktion geändert) weiß von nichts. Sie bekommt das Video weitergeleitet. Darin sieht sie fünf Mädchen, darunter ihre Tochter, allesamt Fünftklässlerinnen, die vor der Schule einen albernen Tanz veranstalten. "Die haben rumgetanzt, Quatsch gemacht, sich ein bisschen zum Affen gemacht", so Rößler.
Was ihr aber sofort auffällt: Die Gesichter der Mädchen wurden mit Stickern versehen. Eine Ziege. Ein Clown. Ein Schwein. Und unter dem Video stehen abfällige Kommentare. "''Ihr seid zu blöd zum Tanzen', stand da. 'Ihr seid total hässlich' oder 'Guck mal, wie die Fette sich bewegt'. Es war schon sehr beleidigend", sagt Rößler.
Ein Spießrutenlauf für die Betroffenen
Am folgenden Tag stellt sie das Mädchen zur Rede, welches das Video erstellt hat. "Die hat mir dann erzählt, dass sie es schon hochgeladen hat bei TikTok und bei YouTube. Und es hätte schon ganz viele Likes gekriegt und sei geteilt worden", so Rößler. Für ihre Tochter beginnt damit ihre erste Erfahrung als Cybermobbing-Opfer. Und ein wahrer Spießrutenlauf.
Denn das Video verbreitet sich schnell in der gesamten Schule. Mehrere Tage ist die damals Zehnjährige Gesprächsstoff auf den Schulfluren - und sie leidet darunter.
Tatort Schule
So wie Anja Rößlers Tochter geht es vielen Tausend Kindern und Jugendlichen, wie es die Studie "Cyberlife V - Spannungsfeld zwischen Faszination und Gefahr" nahelegt, die vom Karlsruher Bündnis gegen Cybermobbing vorgestellt wurde.
Laut der Studie sind mindestens zwei Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland Opfer von Cybermobbing geworden. Das Erschreckende: In den meisten Fällen ist der Tatort die Schule. "Leider hat die Problematik in der Schule im Vergleich zum Jahr 2022 zugenommen", berichtet Uwe Leest vom Bündnis gegen Cybermobbing. "Mittlerweile sagen fast 70 Prozent der Lehrer, dass sie diesem Thema an der Schule nicht mehr gewachsen sind. 2022 sagten das nur 42 Prozent."
"Der Schlüssel sind die Eltern"
Tatsächlich sagen schon in der Grundschule zwölf Prozent der befragten Kinder, dass sie einmal online gemobbt wurden. Eine Entwicklung, die kaum verwundert, denn immer mehr Kinder und Jugendliche besitzen schon im jungen Alter ein eigenes Smartphone oder ein anderes internetfähiges Handy.
3,4 Stunden verbringen die Schülerinnen und Schüler täglich im Internet, so die Studie. Und nur wenige Eltern (14 %) geben an, den Umgang ihrer Kinder mit diesem Gerät stark oder sehr stark zu kontrollieren. Genau das aber sei Kern des Problems, so Uwe Leest:
"Der Schlüssel sind die Eltern. Wenn Sie einem Kind ein Handy mit Internet geben, müssen Sie ihm die Nutzung beibringen. Das ist wie beim Schwimmenlernen. Sie werfen ein Kind ja auch nicht ins Wasser und sagen 'schwimm mal'. Sondern sie nehmen es an der Hand, geben ihm einen Schwimmring, befähigen es."
Jeder vierte Jugendliche hat Suizidgedanken
Und zur Befähigung gehöre vor allen Dingen, auf die Gefahren hinzuweisen - und auf die emotionalen Verletzungen, die ein unbedachter Umgang mit den Handys verursachen kann. Denn jeder vierte befragte Jugendliche hat bei der Cybermobbingstudie angegeben, sogar schon einmal Suizidgedanken gehabt zu haben aufgrund des Mobbings. Das sind 500.000 Schülerinnen und Schüler, die überlegt haben, ob sie sich das Leben nehmen sollen - weil sie den Druck aus den sozialen Netzwerken nicht mehr aushalten.
Der Hauptverbreitungsweg von Hass und Häme scheint dabei Whatsapp zu sein (77 %), gefolgt von TikTok (57 % ), Snapchat (50 %) und Instagram (45 %). Allesamt soziale Medien, die die Möglichkeit schaffen, jemanden anzugreifen, ohne ihm dabei in die Augen sehen zu müssen. "Wenn Sie körperlich gemobbt werden und weinen, dann lassen die Täter wahrscheinlich von Ihnen ab. Aber die Tränen, die im Netz geweint werden, die sieht man nicht", so Uwe Leest.
In den meisten Fällen kennen die Opfer die Täter
Das Paradoxe: Der Großteil des Cybermobbings geschieht keineswegs anonym. In den meisten Fällen kennen die Opfer ihre Angreifer. Auch Anja Rößlers Tochter wusste, wer da im Netz gegen sie hetzt. Geholfen hat es wenig. Die Eltern waren nicht greifbar, auch die Schule wollte zunächst nicht helfen. "Die waren überfordert, wussten nichts damit anzufangen, haben abgewiegelt", so Anja Rößler. "Die hatten keinen Leitfaden, was sie in so einem Fall tun sollen."
Nur Dank Anja Rößlers Beharrlichkeit kommt es schließlich zu einem Runden Tisch mit betroffenen Eltern, der Schulleitung und der Polizei. Die stellt klar, welche strafrechtlichen Konsequenzen Cybermobbing haben kann, wenn es zur Anzeige gebracht wird.
Insgesamt, so klagt Uwe Leest, werde das Thema in Deutschland politisch aber immer noch vernachlässigt. Er wünscht sich ein eigenes Gesetz gegen Cybermobbing: "Es geht uns vor allem um den abschreckenden Charakter, den solch ein Gesetz haben kann. Ein eigenes Gesetz gibt den Tätern ein klares Zeichen, das, was du machst, ist kein Spaß, das ist strafbar."
Handyverbote an Schulen - ein Ausweg?
Anja Rößler hat inzwischen einen Weg gefunden, ihre Tochter zumindest in der Schule zu schützen: "Seit diesem Schuljahr gibt es hier bei uns zwei Schulen, an denen Handyverbote gelten. Die Handys werden morgens vor Schulbeginn in Handytresore eingeschlossen und die Schüler bekommen es erst nach Schulende wieder."
Tatsächlich diskutieren immer mehr Schulen in Deutschland, die Schule zu einem handyfreien Raum zu machen. Ein Vorstoß, den auch Uwe Leest unterstützt: "Wir müssen den Schulraum wieder zu dem machen, was er eigentlich ist: Ein Raum zum Lernen und nicht ein Raum, um Nachrichten von der fünften in die erste Reihe zu schicken. Wenn wir es schaffen, Schulen wieder zu einem Raum des gegenseitigen Respekts zu machen, würden wir vielen helfen."