Parteien im Bundestag Was passiert, wenn es keine Mehrheiten mehr gibt?
Mit dem "Bündnis Sahra Wagenknecht" könnte der Bundestag in der nächsten Legislaturperiode um eine weitere Partei anwachsen. Langfristig könnten Mehrheiten nur noch durch Koalitionen mit vielen Parteien erreicht werden.
Erste Umfragen prognostizieren für das "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) gut zehn Prozent der Wählerstimmen - damit würde die neu angekündigte Partei in den Bundestag einziehen. Bis dahin ist es natürlich noch ein weiter Weg. Allerdings wäre es zumindest theoretisch möglich, dass nach der kommenden Bundestagswahl mit CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP, AfD, SSW, BSW und Linkspartei gleich neun Parteien im Bundestag vertreten sind - so viele wie noch nie seit der Wiedervereinigung.
Das würde jedoch auch bedeuten, dass die Regierungsbildung immer herausfordernder werden könnte - vor allem, da zumindest bislang eine Koalition mit der AfD von den anderen Parteien ausgeschlossen wird.
"Grundsätzlich stimmt natürlich: Mehr Parteien, mehr Zersplitterung, macht die Mehrheitsfindung in einem Parlament schwieriger", sagt Thorsten Faas, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. "Zugleich aber hängt es von einer Sache ab: Zieht das BSW Stimmen von Kräften ab, die ohnehin an Regierungsbildungsprozessen nicht beteiligt sind - oder auch aus der 'Mitte'?" Denn beim ersten Fall würde sich für die regierungsbildenden Parteien zunächst nicht viel verändern.
Koalition aus zwei Fraktionen bisher die Regel
Eine Koalition aus nur zwei Fraktionen könnte immer seltener werden. Dabei war sie früher die Regel: Seit der Wiedervereinigung gab es im deutschen Bundestag bis zur Ampelkoalition stets Regierungen mit nur zwei Koalitionspartnern - traditionell bestehend aus einer der beiden größeren Parteien SPD oder Union gemeinsam mit ihren "Juniorpartnern", den Grünen beziehungsweise der FDP.
Da dies jedoch in der jüngeren Vergangenheit nicht immer möglich war, kam es 2005, 2013 und 2017 zu einer sogenannten Großen Koalition aus SPD und Union. 2017 kam jedoch auch das Bündnis zusammen nur auf 53,4 Prozent der Stimmen. Bereits hier wäre für beide Parteien nur ein Dreierbündnis infrage gekommen, hätten sie sich nicht für eine Fortführung der Großen Koalition entschieden.
Bei der vergangenen Bundestagswahl kamen dann selbst SPD und Union zusammen nur noch auf 49,8 Prozent, was zumindest theoretisch noch für eine Mehrheit im Bundestag gereicht hätte - die Parteien entschieden sich jedoch anders. Zum Vergleich: In den 1990er-Jahren hatten die beiden "Volksparteien" noch zusammen mehr als 70 Prozent der Wählerstimmen erhalten.
Längere Koalitionsverhandlungen möglich
Dass die SPD und Union wieder zu alter Stärke finden werden, hält Reimut Zohlnhöfer, Politikwissenschaftler an der Universität Heidelberg, für eher unwahrscheinlich. "Ich glaube, als Dauerzustand muss man von der jetzigen Situation ausgehen. Das ist auch im internationalen Vergleich nicht untypisch, wenn man nach Belgien, in die Niederlande oder nach Israel schaut", sagt er. "Da haben wir schon unglaublich zersplitterte Parteiensysteme. Und das führt dazu, dass dort sehr viel häufiger Koalitionen aus mehr als zwei Parteien bestehen."
In den Niederlanden bestand die letzte Koalition aus vier Parteien, bevor sie diesen Sommer zerbrach. In Israel sind fünf Parteien beziehungsweise Bündnisse an der Regierung beteiligt, in Belgien sogar sieben.
Eine der Folgen solch zersplitterter Parteiensysteme sei die Dauer der Koalitionsverhandlungen, so Zohlnhöfer. "Dadurch kommt es zu wesentlich längeren Koalitionsbildungsprozessen. Wir haben jetzt schon deutlich längere Koalitionsverhandlungen in Deutschland als in den 1990er- oder noch den 2000er-Jahren."
Die Ampelparteien brauchten insgesamt 73 Tage bis zur Regierungsbildung, deutlich länger dauerte es nur 2017, als die Verhandlungen zwischen FDP, Grünen und Union scheiterten und es dann doch zu einer Neuauflage der Koalition aus SPD und Union kam. In Belgien dauerte die letzte Regierungsbildung insgesamt 493 Tage und damit mehr als ein Jahr.
Mit Blick auf andere Länder zeigt sich aus Sicht von Zohlnhöfer zudem, dass Koalitionen mit mehr als zwei Parteien potenziell auch instabiler seien. In mehreren Ländern kam es in den vergangenen Jahren zu vorzeitigen Regierungsauflösungen von Koalitionen mit mehreren Parteien, unter anderem in Israel, Italien und Belgien. Allerdings gebe es auch genug Beispiele, die zeigten, dass solche Koalitionen durchaus auch erfolgreich sein könnten.
Minderheitsregierung als Option?
Eine weitere Möglichkeit, um trotz zersplittertem Parteiensystem regieren zu können, ist die Bildung einer Minderheitsregierung. Diese verfügt nicht über eine Mehrheit und ist daher auf die Unterstützung von Abgeordneten der Oppositionsparteien angewiesen, um Gesetze zu verabschieden und politische Entscheidungen zu treffen. Vor allem in den skandinavischen Ländern ist dieses Konzept verbreitet, auch in Kanada gibt es derzeit eine Minderheitsregierung.
Eine Minderheitsregierung in Deutschland stünde jedoch vor einigen Problemen, sagt Faas. "Grundsätzlich sind viele Regeln des Grundgesetzes schon sehr stark auf stabile Mehrheiten hin ausgerichtet und wir erleben ja gerade auch in Thüringen wieder, dass wir uns in Deutschland schwer tun mit Minderheitsregierungen." In Thüringen regiert Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei zusammen mit der SPD und Grünen, ohne die Mehrheit im Landtag zu haben. Es ist das einzige Bundesland mit einer Minderheitsregierung.
Auf Bundesebene käme aus Sicht von Faas hinzu, dass bereits die Kanzlerwahl für eine Minderheitsregierung schwer werden könnte. "Der Kanzler braucht grundsätzlich eine Kanzlermehrheit - da geht es schon los." Das heißt: Der Kanzler muss vom Bundestag mit einer absoluten Mehrheit gewählt werden - also von mehr als der Hälfte der Abgeordneten. Sollte das nach mehreren Wahlrunden nicht gelingen, gewinnt der Kandidat mit der einfachen Mehrheit, also den meisten Stimmen.
Zudem würden Minderheitsregierungen gerade dann große Schwierigkeiten bergen, "wenn Parteien sich von den Rändern abgrenzen sollen und wollen", sagt Faas. "Zudem muss man einfach sagen: Wir sind das nicht gewohnt. Bis in die Ausschüsse hinein ist man gewohnt, dass am Ende dort Mehrheiten stehen. Das alles wäre nicht mehr gegeben und würde sicher längere Anpassungsprozesse mit sich bringen."
Schweiz mit besonderem Modell
In der Schweiz wiederum gibt es die Tradition, dass stets die vier stärksten Parteien in der Regierung, dem Bundesrat, vertreten sind. So sollen möglichst viele verschiedene Parteien und damit politische Ansichten vertreten sein. Doch auch dieses Modell ist für Deutschland eher ungeeignet, sagt Zohlnhöfer. Denn durch die starke Rolle der direkten Demokratie könnten die Parteien in der Schweiz ihre Positionen beispielsweise durch Volksentscheide deutlich machen.
"Die SVP, also die rechtspopulistische Partei, macht ja eigentlich Oppositionsarbeit in der Regierung, indem sie immer wieder Initiativen ergreift, die alle anderen Koalitionspartner gar nicht wollen", sagt Zohlnhöfer. In Deutschland sei das jedoch nicht möglich, da es diese Elemente der direkten Demokratie nicht gebe. Dadurch bestünde die Gefahr, dass bei so einem Modell der Eindruck bei den Wählerinnen und Wählern entstünde, dass die Parteien inhaltlich nicht mehr voneinander unterscheidbar seien.
Auch Expertenregierungen, die aus unabhängigen Fachleuten bestehen, die nicht Mitglied einer Partei sind, halten Faas und Zohlnhöfer für keine dauerhafte Lösung. Solche Regierungen wurden in der Vergangenheit beispielsweise in Italien und Griechenland in Krisenzeiten übergangsweise eingesetzt.
Mehrheitsbildung laut Experten kein Problem
Insgesamt ist es nach Ansicht von Faas und Zohlnhöfer jedoch unwahrscheinlich, dass die Mehrheitsbildung im Bundestag in absehbarer Zeit zu einem großen Problem wird. Zum einen müsste das BSW überhaupt die Fünf-Prozent-Hürde schaffen, ohne dabei hauptsächlich Wählerinnen und Wähler anderer Oppositionsparteien abgeworben zu haben. Zum anderen gebe es auch dann noch ausreichend Möglichkeiten für die Parteien, stabile Mehrheiten zu bilden - selbst, wenn bestimmte Parteien ausgeschlossen würden.
Die Zersplitterung des Parteiensystems habe zudem auch den Vorteil, dass Parteien besser abbilden könnten, was ihre Wählerinnen und Wähler wollen.