Wahlkampf der Grünen Nur noch Abwehr
Die Grünen wollten im Wahlkampf eigentlich inhaltliche Akzente setzen. Doch nun geht es vor allem um die Fehler und Ungenauigkeiten Baerbocks. Was läuft da gerade alles schief?
"Frauen oder Männer?", "Reden oder Schweigen", "80 oder 120 Prozent": Annalena Baerbock sitzt auf der Bühne eines Berliner Kinosaals und bekommt Begriffspaare zur Auswahl. "Brigitte Live" heißt das Gesprächsformat. Es dauert eine Weile, bis das Paar kommt, auf das wohl viele an diesem Abend gewartet haben: "Fehler machen oder Fehler vermeiden"? Sie entscheidet sich für "Fehler machen". Es ist klar, dass es im anschließenden Gespräch um die Plagiatsvorwürfe zu ihrem kürzlich erschienenen Buch geht.
Baerbock äußert sich hier zum ersten Mal selbst öffentlich und weist jegliche Kritik zurück. Es seien viele Ideen von anderen mit eingeflossen. "Aber ich habe kein Sachbuch oder so geschrieben, sondern das, was ich mit diesem Land machen will - und auf der anderen Seite die Welt beschrieben, wie sie ist, anhand von Fakten und Realitäten." Sie halte es für wichtig, selbstkritisch zu sein, aber auch deutlich zu machen, wofür man stehe und falsche Behauptungen zurückzuweisen, so die grüne Kanzlerkandidatin.
Mit sich selbst beschäftigt
Es ist Wahlkampf, und der verlief bisher für die Grünen wenig zufriedenstellend. Die Parteispitze ist vor allem damit beschäftigt, überall kleine bis größere Feuer zu löschen. Beispiel Saarland: Ein Landesverband, der sonst so gut wie keine Rolle spielt, macht plötzlich Ärger. Die Landesliste zur Bundestagswahl führt - trotz Frauenstatut - ein Mann an. Beispiel Winfried Kretschmann: Der erfolgreiche Landesvater von Baden-Württemberg, Oberrealo und eines der wichtigsten Zugpferde der Partei, sorgt mit Äußerungen über ein härteres Regime bei zukünftigen Pandemien für Verwirrung. Später entschuldigte er sich. All das ist nicht hilfreich für den grünen Wahlkampf.
Für die meisten Brandstellen sorgte jedoch die Spitzenkandidatin selbst: verspätete Nachmeldungen von Sonderzahlungen, dann Fehler und Ungenauigkeiten im Lebenslauf. Es sind Stolperfallen, die Baerbock und ihr Team hätten verhindern können. Die Verteidigungsstrategie: Abbitte leisten, Fehler eingestehen statt sie zu leugnen, in der Hoffnung, dass Wählerinnen und Wähler das mit Wohlwollen bedenken.
Es bleibt die Kritik
Jetzt die Vorwürfe gegen das Buch. Vielleicht das eine Feuer zu viel? Die Grünen antworten diesmal offensiv und blasen zum Gegenangriff. Von einer Rufmord-Kampagne spricht die Partei, die sogar den bekannten Medienanwalt Christian Schertz engagiert hat. Die Grünen wehren sich gegen den Vorwurf der Urheberrechtsverletzung. Doch auch wenn es nicht justiziabel war, bleibt die Kritik, warum mehrere Passagen fast wortgleich übernommen wurden. Darauf gehen die Grünen nicht ein.
Die Angriffe sind gefährlich, sie zielen auf die Glaubwürdigkeit von Annalena Baerbock. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner sagt im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio: "Wir wehren uns dagegen, dass Kleinigkeiten aufgebauscht werden - das ist sicherlich auch der Versuch, von den großen Debatten abzulenken."
Die großen Debatten. Die Grünen wollen mit ihren inhaltlichen Vorstellungen punkten - mit Ideen, die den klimafreundlichen Umbau der Industrie voranbringen, aber auch Arbeitsplätze sichern. Ökologische Marktwirtschaft mit sozialer Absicherung. Baerbock besuchte kürzlich den Stahlproduzenten ArcelorMittal in Eisenhüttenstadt. Es ist der Tag, an dem sie ihren "Industrie-Pakt" präzisieren will. Im Kern sollen "Unternehmen, die sich der klimaneutralen Produktion verschreiben", Planungssicherheit garantiert bekommen - auch finanziell. Darüber redet sie in dicker Jacke und mit Helm in der Verzinkerei.
Die Eroberung des Kanzleramts
Die Reaktionen sind geteilt: Die Geschäftsleitung spricht von der eigenen angestrebten "Vorreiterrolle". Bei Chris Rücker dagegen schlagen die grünen Ideen nicht wirklich Funken. Er arbeitet an dem Hochofen, der für die klimafreundlichere Stahl-Produktion geschlossen werden soll, und berichtet im Gespräch mit Baerbock von großen Zukunftsängsten. Auch wenn die aktuelle Stimmungslage deutlich gedämpfter ist: Eigentlich haben die Grünen ja selbstbewusst die Eroberung des Kanzleramts als Ziel ausgerufen. Dazu muss die Partei weit mehr als ihr bisheriges Kernpublikum überzeugen.
Vertrauen - es ist die entscheidende Währung in der Politik. Für die Grünen ist sie noch entscheidender als für die politischen Mitbewerber. Sie wollen mit ihrem Programm weitreichende Veränderungen herbeiführen, um das Land klimaneutral zu machen. Das verlangt vielen Menschen viel ab. Außerdem sind sie seit 16 Jahren im Bund in der Opposition. Ihre Kanzlerkandidatin konnte noch nicht beweisen, dass sie regieren kann, weder als Ministerpräsidentin noch als Ministerin im Bund. Sie braucht also einen Vertrauensvorschuss. Dazu müssen Baerbock und die Grünen wieder in die Offensive kommen.
Eigene Themen setzen? Das Löschen der kleinen und größeren Feuer hat viel Kraft und Kapazität gebunden. Doch dabei soll es nicht bleiben. Die Grünen wollen die Konkurrenz, vor allem Unionskandidat Laschet, in die inhaltliche Auseinandersetzung zwingen: "Das Programm der Union ist einfach ein Schönreden. Bei den Inhalten weichen CDU und CSU aus", so Kellner. Franziska Brantner, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, sagte dem ARD-Hauptstadtstudio: "Laschet glaubt, er käme ohne Inhalte durch. Dabei werden wir nicht zusehen."
"Dann ist man ein Fähnchen im Wind"
Am Abend auf der Bühne des Berliner Kinos antwortet Baerbock auf die Frage, ob sie im Wahlkampf künftig mehr auf Angriff setzen wolle: "Wenn man sich immer nur von anderen treiben lässt, dann ist man ein Fähnchen im Wind." Der Anspruch der Grünen sei nicht, andere schlecht zu machen. Sie wolle keinen Wahlkampf führen nach dem Motto: "Das machen andere schlecht, hau drauf." Zumindest auf Twitter aber haben einige Grüne schon auf Angriff geschaltet und schießen jetzt scharf.