Erfassung von Arbeitszeiten Alternative zur Stechuhr gesucht
Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur genauen Erfassung von Arbeitszeiten verunsichert viele Unternehmen: Kommt die Stechuhr zurück? Arbeitsminister Heil will das verhindern und sucht nach Lösungen.
Sei es in der alten Form des "Stempelns", sei es elektronisch: Für die einen ist die tägliche Arbeitszeiterfassung selbstverständlich. Für andere dagegen wirkt die Arbeitszeiterfassung wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Doch juristisch ist die Sache klar: Arbeitgeber müssen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter erfassen. So hat es jüngst das Bundesarbeitsgericht entschieden und damit ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2019 konkretisiert.
Es reicht nicht, die Arbeitszeiterfassung in das Belieben der Beschäftigten zu stellen und nur Überstunden zu zählen. Arbeitgeber müssen vielmehr ein "objektives, verlässliches und zugängliches System" einführen, "mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann", so das Bundesarbeitsgericht.
Die Entscheidung hat für viel Aufsehen gesorgt: Von einer "erstaunlichen" Entscheidung etwa spricht der Arbeitsrechtler Joachim Schwede im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio. Nachdem die Politik das EuGH-Urteil von 2019 lange vor sich hergeschoben habe, verlange die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nun schnelle Konsequenzen.
Dabei hatten sich SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag noch eher unverbindlich gezeigt: "Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen", hieß es da.
Kritik aus der Wirtschaft: "Nicht durchdacht"
In der Wirtschaft haben die Entscheidungen von EuGH und Bundesarbeitsgericht für viel Unruhe und Kritik gesorgt. Hier würden "eindeutig die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung" überschritten, heißt es in einer Stellungnahme der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw): "Die drohenden Konsequenzen dieser Rechtsprechung sehen wir mit Besorgnis."
Von Seiten des Arbeitgeberverbands BDA heißt es, das Urteil sei "überstürzt und nicht durchdacht." Die Stechuhr dürfe nicht in die Betriebe zurückkehren, so BDA-Präsident Rainer Dulger.
Das will auch SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil verhindern. Es gebe zahlreiche digitale Möglichkeiten, um die Arbeitszeit im Einklang mit den richterlichen Vorgaben zu erfassen. Er werde jetzt zunächst mit Arbeitgebern und Gewerkschaften sprechen und voraussichtlich noch im ersten Quartal des neuen Jahres einen Vorschlag zur Reform des Arbeitszeitgesetzes vorlegen - mit "praxistauglichen Lösungen", kündigte der SPD-Politiker an.
FDP für mehr Flexibilität
Pascal Kober, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP im Bundestag, setzt darauf, dass dabei auch die positiven Erfahrungen berücksichtigt werden, die viele Menschen während der Corona-Pandemie gemacht hätten: "Dass sie durch mobiles Arbeiten sehr viel leichter und selbstbestimmter Beruf, Familie und Freizeit miteinander verbinden können" - das gelte es mit den neuen Regelungen der Arbeitszeiterfassung zu erhalten und durch mehr Flexibilität bei den Arbeitszeitregeln zu ergänzen.
Nach Ansicht von Kober sollte beispielsweise Homeoffice nicht durch starre Vorgaben erschwert werden. Modernes Arbeiten verlange vielmehr Freiheit, um den Wünschen vieler Beschäftigter zur Gestaltung ihrer Arbeit zu entsprechen. Wer beispielsweise zwischendurch die Kinder aus der Kita abhole, sollte abends auch noch beruflich Mails checken dürfen.
Linkspartei pocht auf Arbeitsschutz
Ganz anders sieht das Susanne Ferschl, Fraktionsvize der Linken im Bundestag. Sie fordert gleiche Regeln für alle Arbeitnehmer - ohne Ausnahmen, weil der Arbeitsschutz, den das Bundesarbeitsgericht in den Mittelpunkt seiner Argumentation gestellt habe, auch für alle gelte. Die generelle Dokumentation der Arbeitszeit sei auch deshalb so wichtig, weil nur dadurch Überstunden verlässlich erfasst würden.
Darauf verweist auch DGB-Chefin Yasmin Fahimi: eine verlässliche Arbeitszeiterfassung sei kein bürokratischer Selbstzweck, sondern Grundbedingung, damit Ruhe- und Höchstarbeitszeiten eingehalten werden - was heutzutage viel zu oft nicht der Fall sei, so Fahimi.
Wie die verschiedenen Argumente in die Reform des Arbeitszeitgesetzes einfließen, ist noch nicht klar. Schon in den Diskussionen aber zeigt sich, wie unterschiedlich die Perspektiven sind: Mit dem Fokus auf prekäre Branchen, in denen nicht so genau auf Arbeitszeiten geschaut wird, kommt man zu anderen Ergebnissen als mit dem Fokus auf Branchen, in denen Mitarbeiter ein hohes Bedürfnis nach einer zeitsouveränen Gestaltung ihrer Arbeit haben.