Jahresbericht der Meldestelle MIA Bundesweit mehr als 600 antiziganistische Vorfälle
Sinti und Roma werden in Deutschland nach wie vor Ziel von Anfeindungen und Übergriffen. Zu diesem Ergebnis kommt die für Antiziganismus eingerichtete Meldestelle MIA. Diskriminierung findet demnach auch auf staatlicher Ebene statt.
Im vergangenen Jahr wurden bundesweit mehr als 600 Fälle von Diskriminierung oder körperlicher Gewalt erfasst, die sich gezielt gegen Angehörige der Sinti und Roma richteten. Diese Bilanz zieht die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus in ihrem Jahresbericht.
Insgesamt wurden 2022 laut MIA 621 antiziganistische Vorfälle gemeldet. Dazu zählen demnach 343 Fälle von Diskriminierung und 245 Fälle von "verbaler Stereotypisierung", aber auch elf Fälle von Bedrohung, 17 Angriffe und ein Fall von "extremer Gewalt". Vergleiche zu Vorjahren sind auf Basis der MIA-Bilanz nicht möglich, da es sich um den ersten von der Meldestelle veröffentlichten Bericht handelt.
Bei dem Fall von "extremer Gewalt" waren mehrere Betroffene im Saarland zunächst von einer Personengruppe aus einem Auto heraus beleidigt und anschließend mit einer Druckluftwaffe beschossen worden. Mehrere Menschen wurden verletzt. Der Vorfall floss auch in die Statistik für politisch motivierte Kriminalität als antiziganistische Straftat ein.
Für den Begriff "Antiziganismus" gibt es mehrere, etwas variierende Definitionen. Der Duden schreibt dem Begriff die Bedeutung einer "Abneigung oder Feindschaft gegenüber Sinti und Roma" zu.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes folgt der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Demnach "manifestiert sich Antiziganismus in individuellen Äußerungen und Handlungen sowie institutionellen Politiken und Praktiken der Marginalisierung, Ausgrenzung, physischen Gewalt, Herabwürdigung von Kulturen und Lebensweisen von Sinti und Roma sowie Hassreden, die gegen Sinti und Roma sowie andere Einzelpersonen oder Gruppen gerichtet sind, die zur Zeit des Nationalsozialismus und noch heute als 'Zigeuner' wahrgenommen, stigmatisiert oder verfolgt wurden bzw. werden. Dies führt dazu, dass Sinti und Roma als eine Gruppe vermeintlich Fremder behandelt werden, und ihnen eine Reihe negativer Stereotypen und verzerrter Darstellungen zugeordnet wird, die eine bestimmte Form des Rassismus darstellen."
Die Bundeszentrale für politische Bildung weist darauf hin, dass der Begriff Antiziganismus heute teilweise umstritten ist, da "er die abwertende Fremdbezeichnung 'Zigeuner' beinhaltet". Allerdings werde er "trotzdem von einigen Roma-Organisationen verwendet, auch um die darin enthaltenen rassistischen Zuschreibungen sichtbar zu machen, die von tatsächlichen Lebenswirklichkeiten völlig unabhängig sind".
Vorfälle unter und über Grenze der Strafbarkeit
Doch nicht alle Fälle, die in die MIA-Bilanz einfließen, erfüllen auch einen Straftatbestand. Wie es vom gleichnamigen Verein, der für die Meldestelle zuständig ist, heißt, sind nur wenige der aufgezählten Taten auch in der Polizeistatistik ausgewiesen.
Ihrer eigenen Definition nach registriert die Meldestelle unter anderem "körperliche Angriffe, Bedrohungen, Sachbeschädigungen, Schmierereien, Beleidigungen, Hasskommentare sowie Propagandamaterial wie Hetzschriften, Plakate oder Aufkleber". Hinweise und Meldungen zu körperlichen oder verbalen Übergriffen nimmt die Meldestelle telefonisch, auf elektronischem Wege oder direkt in den MIA-Zweigstellen entgegen.
Antiziganismus sei für viele Betroffene alltäglich, mahnte Guillermo Ruiz Torres, Leiter der MIA. Er appellierte unter anderem auch an die Medien, für antiziganistische Stereotype in der Sprache und Berichterstattung sensibel zu sein. Der Deutsche Presserat solle entsprechende Verstöße sanktionieren.
Diskriminierung auch durch Polizei und Behörden
Laut Jahresbericht der Meldestelle handelte es sich bei rund der Hälfte aller erfassten Vorfälle um Diskriminierung - und davon habe etwa jeder zweite Fall auf "institutioneller Ebene" stattgefunden. Was bedeutet, dass sich diese Fälle in staatlichen und öffentlichen Einrichtungen ereignet haben sollen, wie Jobcentern, Jugendämtern oder Verwaltungen, die für die Unterbringung Geflüchteter zuständig sind. Auch durch Polizeikräfte seien Angehörige der Sinti und Roma diskriminiert worden.
Der Verein MIA fordert angesichts dieser Zahlen, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auf staatliche Stellen auszuweiten, um so Diskriminierung auch auf dieser Ebene ahnden zu können. Auch der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, sprach sich für ein härteres Vorgehen gegen Antiziganismus aus: "Die in unserer Verfassung garantierte gleichberechtigte Teilhabe kann nur dann eingelöst werden, wenn vor dem Hintergrund unserer Geschichte der jahrhundertealte Antiziganismus genauso geächtet wird wie der Antisemitismus."
"Antiziganismus in Behörden trauriger Alltag"
Gerade die auf behördlicher Ebene gemeldeten Fälle riefen beim Bundesbeauftragten gegen Antiziganismus, Mehmet Daimagüler, scharfe Kritik hervor: "Zur Wahrheit gehört eben auch, dass Antiziganismus nicht nur auf den Straßen, sondern auch in Behörden trauriger Alltag ist." Daimagüler betonte, der "Rassismus auf den Straßen ist schlimm" und der Rassismus "auf Behördengängen" sei "nicht akzeptabel". Vorfälle wie diese würden das Vertrauen von Betroffenen in staatliche Stellen schwächen. Sie zweifelten oft daran, mit Hilfe von Polizei und Justiz Gerechtigkeit zu erfahren.