Bilanzskandal des DAX-Konzerns Wie Wirecard tricksen konnte
Wie konnte Wirecard womöglich Milliardengewinne erfinden und die Bilanzen fälschen? Haben die Aufsichtsbehörden versagt? Seit Jahren gab es bereits Berichte über Manipulationen beim DAX-Unternehmen.
Die britische "Financial Times" (FT) hat längst ein eigenes Dossier auf ihrer Webseite. Unter "Inside Wirecard" sind die jahrelangen Recherchen ihrer Reporter aufgelistet, die seit 2015 immer wieder über Hinweise auf Tricksereien, undurchsichtige Geldströme und mögliche Bilanzfälschungen berichteten. Wirecard nannte das "falsche und irreführende Behauptungen" oder "ungenaue, irreführende und diffamierende" Medienberichte. Wirtschaftsprüfer und Finanzaufsicht schauten offenbar jahrelang nicht genau hin. Im Gegenteil: Sie gingen stattdessen gegen FT-Journalisten vor.
Die Aufsichtsbehörde BaFin stellte im April vergangenen Jahres Strafanzeige gegen zwei FT-Reporter und mehrere Börsenhändler. Begründung: Mit den Enthüllungsgeschichten hätten sie einen Kursrutsch bei Wirecard auslösen wollen, um sich dann mithilfe von Brokern durch Wetten auf fallende Kurse bereichern zu können. Die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen wegen Marktmanipulation ein. Wirecard konnte sich mal wieder als Opfer einer Verschwörung inszenieren.
Dubiose Vorgänge auf den Philippinen
Erst vor wenigen Tagen flog der mutmaßliche Schwindel auf. Der Wirecard-Vorstand räumte ein, dass ein angebliches Guthaben auf Treuhandkonten bei zwei philippinischen Banken in Höhe von mehr als 1,9 Milliarden Euro wahrscheinlich gar nicht existiert. Zuvor hatte der Vorstand der philippinischen BDO Unibank den Wirtschaftsprüfern Ernst & Young (EY) mitgeteilt, dass eine vorliegende Bescheinigung offensichtlich gefälscht sei.
Unabhängig von der Frage, warum ein DAX-Unternehmen ein Viertel seiner Bilanzsumme auf den Philippinen lagern könnte, erscheinen die Geschehnisse und handelnden Personen äußert dubios. Zunächst soll eine Firma namens Citadelle Corporate Services das angebliche Wirecard-Vermögen dort verwaltet haben. Doch der Vertrag wurde Ende 2019 aufgelöst. Warum, ist nicht bekannt. Der Geschäftsführer ist untergetaucht, Reporter der "Wirtschaftswoche" versuchten wochenlang vergeblich, ihn aufzuspüren.
Wirecard-Treuhänder mit zweifelhafter Vergangenheit
Dann trat als Treuhänder der philippinische Anwalt Mark Tolentino in Erscheinung. Er arbeitete früher im Verkehrsministerium und wurde vor zwei Jahren auf persönliche Anordnung von Staatspräsident Rodrigo Duterte wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten entlassen. Auch Tolentino, der noch vor wenigen Tagen in Videos auf Facebook und YouTube Rechtsfragen seiner mehr als 100.000 Abonnenten und Follower beantwortete, ist seit dem Wirecard-Skandal nicht mehr zu erreichen.
Der philippinische Anwalt Mark Tolentino wurde als Treuhänder von Wirecard geführt. Seit der Bilanzskandal aufflog, ist der einstige YouTube-Star abgetaucht.
Äußerst undurchsichtig ist auch, wie Wirecard in den vergangenen Jahren Gewinne gemacht haben möchte. Grundsätzlich verdient die Firma an der Abwicklung von bargeldlosem Zahlungsverkehr. Sie bekommt eine Provision dafür, dass sie Geld vom Endkunden an den Anbieter weiterleitet. Die Kunden, die die Dienstleistung von Wirecard in Anspruch nehmen, sind nicht nur viele Einzelhändler, sondern auch Konzerne wie ALDI, BASF und Ikea.
Der gesamte Wirecard-Gewinn stammt von nur drei Partnern
Doch, wie Recherchen der "Financial Times" im vergangenen Jahr ergaben, stammt nahezu der gesamte vermeintliche Wirecard-Gewinn aus dem Geschäft mit drei Partnern: Einer Firma namens Al Alam aus Dubai, Pay Easy Solutions aus Manila und Senjo in Singapur.
Al Alam, das allein für mehr als die Hälfte des Gewinns gesorgt haben soll, wurde im Mai überraschend aufgelöst. Wer die Firma führte, warum sie so viel Geld eingebracht haben soll - dazu hüllt sich Wirecard in Schweigen.
In einem Wolkenkratzer in der Dubai Internet City hatte Al Alam seinen Sitz - eine Firma, die mehr als die Hälfte des Wirecard-Gewinns erwirtschaftet haben soll.
Die Adresse eines Busunternehmens
Pay Easy Solutions ist laut FT an derselben Adresse wie ein Busunternehmen mit dem Namen Fröhlich Tours gemeldet - als Geschäftsführer beider Unternehmen fungiere Christopher Bauer, ein ehemaliges deutsches Vorstandsmitglied der Wirecard Asia Pacific.
Bei Senjo in Singapur war Rajaratnam Shanmugaratnam nach "Wirtschaftswoche"-Recherchen ein Jahr lang als Direktor tätig und wird bei einer Senjo-Tochter noch als "Secretary" geführt - was deswegen schon pikant ist, weil Shanmugaratnam auch als Geschäftsführer von Citadelle, dem früheren philippinischen Wirecard-Treuhänder eingetragen ist. Sein Name tauchte den Berichten zufolge über Jahre immer wieder in Zusammenhang mit dubiosen Wirecard-Geschäften auf, das erste Mal in Gerichtsunterlagen zu einem Wirecard-Deal aus dem Jahr 2015.
Aufsicht ließ Wirecard jahrelang gewähren
Seit mindestens fünf Jahren stand Wirecard im Verdacht, die Bilanzen gefälscht zu haben. Doch die Wirtschaftsprüfer von EY und die Finanzaufsicht BaFin ließen sie gewähren. BaFin-Chef Felix Hufeld spricht mittlerweile von einem "kompletten Desaster" und gibt sich selbstkritisch: "Wir sind nicht effektiv genug gewesen, um zu verhindern, dass so etwas passiert", sagte er am Dienstag. Gegenüber tagesschau.de teilte seine Behörde mit: "Wenn die Fakten abschließend geklärt sind, muss sich auch die BaFin neben anderen privaten und öffentlichen Stellen die Frage stellen, wie ihre aufsichtlichen Maßnahmen effektiver hätten gestaltet werden können."
Dabei verweist die BaFin auf ihre Zuständigkeiten und Kompetenzen. Sie beaufsichtigt nur die Wirecard Bank, nicht jedoch den Gesamtkonzern. Daher habe sie "keine formalen Prüfungsrechte, was das zweifelhafte Asiengeschäft des Konzerns angeht". Die Bundesbehörde will "aufgrund des starken Wachstums und veränderter rechtlicher Vorgaben" nun überprüfen, "wie die Wirecard AG als Gruppe effektiv beaufsichtigt werden kann".
2019 schützte die BaFin noch Wirecard
Dabei kann die BaFin durchaus knallhart durchgreifen. Im Frühjahr 2019 berichtete die "Financial Times" von Unstimmigkeiten im Asien-Geschäft von Wirecard. Mitarbeiter hätten Verträge gefälscht, rückdatiert oder sogar frei erfunden. Als es zu heftigen Kursturbulenzen der Wirecard-Aktie kam, griff die BaFin zu einem ihrer schärfsten Mittel: Sie verfügte in enger Abstimmung mit der europäischen Wertpapieraufsicht ESMA ein europaweites Leerverkaufsverbot. So etwas hatte es zuvor nur in der Finanzkrise nach der Pleite der US-Bank Lehman Brothers 2008 gegeben.
Auslöser für das Verbot war ein Anruf bei der Staatsanwaltschaft in München, Wirecard würde erpresst. Der Anruf kam vom "anwaltlichen Vertreter von Wirecard", wie die Staatsanwaltschaft gegenüber tagesschau.de bestätigte. "Über dieses Gespräch wurde ein Aktenvermerk gefertigt, der, wie in vergleichbaren Fällen üblich, auch der BaFin zur Verfügung gestellt wurde. Diese hatte damit auch Kenntnis, von wem der Hinweis kam." Das BaFin-Vorgehen sah aus, "als werde eine Schutzmauer um Wirecard gebaut", schrieb die "Süddeutsche Zeitung".
Unmittelbar vor seinem Rücktritt als Wirecard-Chef hat Markus Braun Aktien im Wert von 155 Millionen Euro verkauft.
Politik fordert Konsequenzen für die BaFin
Der Finanzausschuss des Bundestages will sich noch vor der Sommerpause mit der Rolle der Finanzaufsicht befassen. "Wenn schon der BaFin-Präsident von einem Skandal spricht, dann muss dies auch Konsequenzen für seine Behörde nach sich ziehen", sagte die Ausschuss-Vorsitzende Katja Hessel (FDP) der Funke-Mediengruppe. Die Linkspartei ging noch weiter: "Auch personelle Konsequenzen an der Spitze der BaFin sind zu prüfen", sagte Fraktionsvize Fabio de Masi.
Der am vergangenen Freitag zurückgetretene Wirecard-Chef Markus Braun muss sich nun wegen des Vorwurfs der Bilanzfälschung und der Marktmanipulation verantworten. Die fünf Millionen Euro Kaution für seine Freilassung aus der Untersuchungshaft waren für ihn kein Problem: Noch unmittelbar vor seinem Rücktritt verkaufte er einen großen Teil seiner Wirecard-Aktien. In einer Serie von Verkäufen am Donnerstag und Freitag erlöste er insgesamt 155 Millionen Euro, wie Wirecard in mehreren Ad-hoc-Mitteilungen am Dienstagabend mitteilte.