Landminen in der Ukraine Auf Jahrzehnte vermint
In der Ukraine soll eine Fläche von der doppelten Größe Österreichs mit Landminen verseucht sein - wohl auf Jahrzehnte. In manchen Orten kann jeder Schritt furchtbare Verletzungen bedeuten.
Vor dem weiß lackierten Krankenhausbett von Mykola Schalomow steht ein Stuhl, eine Gehhilfe und ein schwarzer Plastikschuh. Ein Schuh, nicht zwei. Denn wenn sich der 62-Jährige aus den Kissen stemmt und auf die Bettkante setzt, dann reicht sein linker Unterschenkel gerade bis unter die Streben des Lattenrosts. Der bandagierte Beinstumpf baumelt sacht gegen das Metall des Bettes.
Dort, wo früher einmal Schalomows linker Fuß war, ist heute nichts. Keine Zehen, keine Ferse, kein Unterschenkel. Nur eine dumpfe Taubheit ist geblieben, ein kratzender Schmerz, sagt er. Ein Phantomschmerz in seinem amputierten Fuß, der nicht mehr Teil seines Körpers ist und den sein Körper doch noch spürt.
Eine Mine vor dem eigenen Haus
Rund drei Wochen ist es her, als der höfliche, sorgfältig rasierte Mann mit dem blaukarierten Hemd an den Ruinen seines niedergebrannten Hauses in Dowgenke in der Ostukraine auf eine versteckte Landmine tritt. "Ich habe geschrien und geschrien", erzählt er, "dann sind die Nachbarn gekommen".
Die Anwohner fahren ihn in die Klinik von Isjum. In einer Notoperation wird Schalomows Unterschenkel amputiert. Nun macht er Kräftigungsübungen, schwingt sein linkes Bein, bewegt sich mit Rollator und Rollstuhl über die Flure. Vier weitere Minen-Patienten werden ebenfalls in der Klinik behandelt.
Minenopfer Mykola Schalomow sagt, er kenne 13 andere Menschen, die auf Minen getreten seien. In der Zukunft will er in eine andere Gegend ziehen. Zu groß sei die Angst vor den Minen im Boden.
"Was, wenn die Enkelkinder zu Besuch kommen?"
Swetlana ist in ihrem Garten auf eine Mine getreten. Das, was vorgestern noch ihre Zehen waren, ist nun wenig mehr als ein Klumpen blassen Fleisches. Karina hat es auf dem Friedhof erwischt. Ihr rechter Fuß ist in einen frischen Verband eingewickelt, rotes Blut tränkt den Stoff.
"Ich kenne dreizehn andere Menschen, die auf Minen getreten sind", sagt Schalomow. "Mir geht es gut, andere sind viel schlimmer dran." Früher war er Kleinbauer, hielt Vieh und mochte es, fischen zu gehen. Jetzt ist sein Ziel, wieder laufen zu lernen.
Sein Arzt macht ihm Hoffnung: In drei bis sechs Monaten soll die Verletzung verheilt sein. Danach könnten sie versuchen, eine Prothese für ihn zu finden.
In Zukunft will Schalomow aber nicht in der Gegend wohnen bleiben, sagt er. Die versteckten Landminen, die überall im Boden liegen können, machten ihm Angst. Was, fragt er, könne geschehen, wenn die Enkelkinder zu Besuch kommen?
Der Unfallchirurg von Isjum
Der Mann, der Schalomows Bein amputiert und dessen Leben gerettet hat, trägt ein grünes OP-Hemd, Kopfbedeckung und einen müden Blick. Jurii Kusnezow ist Traumatologe der Klinik.
Weil der ehemalige Operationsflügel des Krankenhauses während der Kämpfe um Isjum eingestürzt ist, hat Kusnezow ein altes Büro in einen provisorischen Behandlungsraum verwandelt. Derzeit fehlten vor allem größere Sterilisationsgeräte und moderne Prothesen, so Kusnezow.
Die Verletzungen seien für die Opfer außerdem "schwer zu akzeptieren und zu erfassen", sagt er. Es sei auch eine psychologische Herausforderung: "Vor allem für die Jüngeren ist es härter."
Weil der OP-Bereich des Krankenhauses während der Kämpfe um Isjum zerstört wurde, arbeitet der Chirurg Kusnezow jetzt in einem alten Büro. Es fehle vor allem an größeren Sterilisationsgeräten und modernen Prothesen, sagt er.
740 zivile Minenopfer
Laut den Vereinten Nationen wurden im ganzen Land seit Beginn der russischen Invasion mehr als 740 Zivilisten von Minen oder anderen zurückgebliebenen Sprengstoffen verletzt oder getötet. Wie viele Landminen-Patienten er in Isjum behandelt hat, darf Kusnezow nicht sagen. Nur, dass es in Isjum die meisten Fälle in der ganzen Region Charkiw gebe.
Mehrere Monate lang war Isjum von russischen Truppen besetzt, im Herbst eroberten ukrainische Einheiten den Ort zurück. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft russischen Truppen den Einsatz von Anti-Personenminen in vielen Gegenden der Ukraine vor.
Nachweise dafür finden sich in vielen ehemals besetzten Orten, obwohl Russland bestreitet, Zivilisten anzugreifen. International sind Anti-Personenminen geächtet, weil sie vor allem auch für die Zivilbevölkerung eine große Gefahr darstellen, nicht nur für Soldaten.
Vorwürfe auch gegenüber der Ukraine
Hinsichtlich der Minen in Isjum hat Human Rights Watch aber auch die ukrainische Armee aufgefordert, den mutmaßlichen Einsatz von Anti-Personenminen zu überprüfen. "Russische Truppen haben wiederholt Anti-Personenminen genutzt und Grausamkeiten überall im Land begangenen, aber das rechtfertigt nicht den ukrainischen Gebrauch von verbotenen Waffen", schreibt die Organisation.
Die Ukraine beharrt darauf, sich an das internationale Völkerrecht zu halten - inklusive des Nichtgebrauchs von Anti-Personenminen.
Ob die Minen in Isjum russisch oder ukrainisch waren, will Unfallchirurg Kusnezow nicht kommentieren. "Ich bin kein Minen-Experte", sagt er, "ich behandle nur die Verletzungen". Aber er erzählt, dass während der Besatzung das Krankenhaus als russisches Feldlazarett gedient habe. Bis auf eine kleine Zufahrtsstraße für Zivilisten seien alle Zugänge vermint worden.
Keine Reparaturen ohne Räumung
In der Stadt und in der Umgebung sind überall rote Warnschilder mit Totenkopf zu sehen. Vor dem Friedhof, an Fabrikgeländen, am Straßenrand, vor Waldstücken. "Gefahr! Minen!" steht darauf. Laut dem ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal ist ein Gebiet von der doppelten Fläche Österreichs von Minen verseucht.
Einer, der bereits mit der Suche und Entschärfung von Minen angefangen hat, ist Maxim Jurewytsch vom ukrainischen Katastrophenschutz. In schwerer Schutzweste, Helm und Stiefeln sucht der Sprengstoffexperte mit einem Minensuchgerät einen Korridor entlang einer zerstörten Stromleitung ab.
Bevor der Bereich nicht von Minen geräumt worden sei, könnten die Reparaturarbeiten nicht losgehen, erklärt Jurewytsch. "Ohne uns würde der ukrainische Wiederaufbau viel länger dauern."
Niemand weiß, wo und wie viele Minen die russischen Truppen hinterlassen haben.
Räumung wird Jahrzehnte dauern
Es ist ungesichertes Terrain: Jeder Schritt könnte eine Mine auslösen. Vor wenigen Tagen seien zwei Kollegen bei einer Minenräumung verletzt worden, erzählt Jurewytsch.
Besonders gefährlich sind die Minen, die aus Plastik bestehen. Denn die Sensoren von Jurewytschs Gerät reagieren vor allem auf Metall im Erdboden: Minen, Munitionsreste, Abfall. Auch die Trümmer einer russischen Streubombe findet sein Team.
Sobald das Minensuchgerät anschlägt, überprüfen sie vorsichtig die Stelle. "Ein Mann ohne Angst ist ein gefährlicher Mann", sagt Jurewytsch, "er könnte etwas übersehen". In sorgfältigem Abstand folgen andere Minenräumer und markieren die gesicherte Strecke mit rot-weißen Flatterbändern an Bäumen und Sträuchern.
Niemand weiß, wo und wie viele Minen die russischen Truppen hinterlassen haben. An einem Vormittag markieren die Minenräumer einen mehrere Kilometer langen Streifen entlang der Stromleitung. Für die weiten Wiesen und Felder rechts und links fehlen die Ressourcen. Die Räumung aller Minen dürfte Jahrzehnte dauern. Deutschland hat laut Angaben der Bundesregierung dafür bislang über 26 Millionen Euro bereitgestellt.