Flucht aus Bergkarabach Wenn von der Heimat nichts bleibt
Vor einem Jahr begann die Flucht der Armenier aus Bergkarabach. Während ihr Schicksal angesichts anderer Konflikte wie dem Krieg in Gaza kaum Aufmerksamkeit fand, suchen sie nach einem neuen Leben.
Für Aserbaidschans Führung war es eine "Antiterroroperation" gegen "armenische Separatisten", um die territoriale Integrität Aserbaidschans wiederherzustellen. Für mehr als 100.000 Armenier war es das Ende ihrer Republik und der Verlust ihrer Heimat: der Einmarsch der aserbaidschanischen Streitkräfte in Bergkarabach und der Exodus der Armenier im September vor einem Jahr.
Susanna Basardjan und ihre Kinder zählten zu Hunderten Armeniern, die in Todesangst am Flughafen der Hauptstadt Stepanakert Schutz suchten. Sie wurden dort von den russischen "Friedenstruppen" untergebracht, die zum Schutz der Armenier in Bergkarabach stationiert waren.
"Wir bekamen zwei Tage lang weder Brot noch Wasser. Am letzten Tag gaben sie uns sogar türkisches Brot zu essen. Als wir an der armenischen Grenze ankamen und sie uns dort Essen gaben, bedeutete es uns alles", erzählte die 46-jährige Mutter von vier Kindern Journalisten aus Deutschland in Vardenis, einem Ort in Armenien in Sichtweite der Grenze zu Aserbaidschan.
Ansiedlungsprogramm in Bergkarabach
Für Basardjan war es bereits die zweite Flucht. Aus Armenien stammend war sie 2016 mit ihrem Mann auf der Suche nach Arbeit in die Region Hadrut tief im Süden von Bergkarabach gegangen. Im Rahmen eines Ansiedlungsprogramms erhielten sie Arbeit und Unterkunft.
Da die Löhne höher und das Leben besser als im kargen Armenien waren, folgten über die Jahre viele dem Ruf und belebten die Dörfer Bergkarabachs. Im ersten Krieg um die Region zu Beginn der 1990er-Jahre waren die aserbaidschanische Bewohner geflohen. Sie hatten bis dahin etwa 25 Prozent der Bevölkerung ausgemacht.
Zurück blieben ihre verfallenden Häuser und bei den armenischen Nachbarn Erinnerungen daran, wie das Zusammenleben immer konfliktreicher und gewalttätiger geworden sei. Eine Rückkehr der Aserbaidschaner erschien ihnen unvorstellbar, wie Bewohner von Hadrut im Jahr 2008 sagten. In den folgenden Jahren verfestigte sich der Anspruch der Armenier auf Bergkarabach und umliegende Gebiete Aserbaidschans noch, die als Pufferzone eingenommen worden waren.
Dem Feind ausgesetzt
Doch für die Aserbaidschaner blieb der Verlust dieser Gebiete tiefe Wunde und Demütigung. Deren Führung erhob die Rückeroberung zum wichtigsten Ziel. In die militärische Vorbereitung flossen Milliardeneinnahmen aus dem Export von Öl und Gas.
Vor vier Jahren, im September 2020, gab Präsident Ilham Alijew den Angriffsbefehl. Als die aserbaidschanischen Streitkräfte von Südosten her die Ebene hinauf nach Hadrut vorstießen, dachte Susanna Basardjan zunächst, die Artilleriegeräusche kämen von den üblichen Übungen auf dem Militärgelände nahe ihres Dorfes.
Die armenischen Soldaten waren auf den hochmodern ausgerüsteten Feind nicht vorbereitet. Die Bewohner flohen nach Norden in das verbliebene Kerngebiet von Bergkarabach. Viele Ältere schafften es nicht mehr. Später tauchten im Internet Videos aus Hadrut auf. Zu sehen waren grausamste Misshandlungen, die Schändung des Friedhofs, die Verwüstung der Häuser.
Ausgehungerte Soldaten
Basardjan blieb mit ihrer Familie in Bergkarabach, deren armenische Bewohner laut Waffenstillstandsvereinbarung von den russischen "Friedenstruppen" beschützt werden sollten. Doch die aserbaidschanische Führung zog den Strick immer enger. Ab Dezember 2022 lebten die Armenier de facto in einer Blockade. Immer weniger lebenswichtige Produkte gelangten aus Armenien in die Region. Krankentransporte fanden zuletzt nur noch sporadisch statt.
Wegen Benzinmangels hätten die ausgehungerten Soldaten zu ihren Standorten laufen müssen, erzählt Basardjan. Als die Aserbaidschanischer am 19. September 2023 ihre Militäroperation begannen, seien die armenischen Soldaten von den russischen "Friedenstruppen" vor die Wahl gestellt worden, ihre Familien über die einzige Zugangsstraße fortzubringen oder ihre Familien dem Feind auszusetzen. Nur deshalb hätten die Soldaten aufgegeben, beteuert Basardjan.
Trauer und Bitterkeit
Sie sei froh, dass ihre Familie mit dem Leben davongekommen sei. Auf der Flucht nach Armenien hätten sie allerdings nicht mehr als ihre Dokumente mitnehmen können.
Sie kamen schließlich mit weiteren Familien in Vardenis kurz hinter der Grenze zu Aserbaidschan unter. Eine lokale NGO bietet ihnen Hilfe, doch Arbeit gibt es nicht. So werden die Tage lang, der Blick in Richtung Bergkarabach ist geprägt von Trauer und Bitterkeit. Für Basardjan ist Bergkarabach das "Rückgrat Armeniens", das nun gebrochen sei. Sie fühle sich wie eine Waise.
Da Bergkarabach unerreichbar geworden ist, idealisieren es viele Armenier mehr noch als zuvor. Sie sprechen von einem "Paradies", vom "Land des Brots", wo dank fruchtbarer Böden und reicher Natur alles besser gedeiht. Der Wille zur Rückkehr ist lebendig, doch ein Leben unter aserbaidschanischer Herrschaft undenkbar. Groß ist die Sorge um die Gräber der verstorbenen Angehörigen. Es gibt Hinweise, dass Kirchen und andere Wahrzeichen der armenischen Kultur in Bergkarabach gezielt zerstört werden.
Tausende Gefallene
In Armeniens Hauptstadt Jerewan fand zum ersten Jahrestag der Flucht aus Bergkarabach kein offizielles Gedenken der Regierung statt. Viele Menschen pilgerten privat zum Militärfriedhof Jerablur am Rande der Hauptstadt. Er gibt Zeugnis von den enormen Opfern, die Armenien für Bergkarabach in den mehr als 30 Jahren seit dem gewalttätigen Ausbruch des Konflikts 1988 auf sich nahm. Es sind Hunderte Gräber von Generationen von Männern.
Gräber weiterer Hunderter Gefallener befinden sich auf den Friedhöfen im ganzen Land, sie sind mit armenischen Flaggen markiert. In den Dörfern und Städten werden die Soldaten auf Wandbildern und Graffitis als Helden geehrt.
Existenz Armeniens gefährdet
Doch das Ende der Republik Bergkarabach hat in Armenien ein Tabu aufgebrochen: Die Frage danach, wie viel Opfer Bergkarabach wert ist und ob die Existenz Armeniens riskiert werden darf.
Seit der vernichtenden Niederlage durch die aserbaidschanischen Streitkräfte Ende 2020 steht auch das Überleben Armeniens auf dem Spiel. Im Frühjahr darauf sowie im Jahr 2022 griffen aserbaidschanische Truppen Armenien selbst an und nahmen im Grenzgebiet strategische Höhen ein. Anders als vertraglich vereinbart, kam die Schutzmacht Russland nicht zu Hilfe.
Warnung schon vor 20 Jahren
Um Aserbaidschan keinen Vorwand für weitere Angriffe auf Armenien zu bieten, entschied Premierminister Nikol Paschinjan vor einem Jahr, die Eroberung Bergkarabachs durch die Aserbaidschaner geschehen zu lassen. Truppen der noch immer schwachen und kaum reformierten Streitkräfte zu schicken, hätte zu einer weiteren schweren Niederlage geführt.
Dahinter steht auch die Einsicht, dass sich die Warnung des ersten Präsidenten des unabhängigen Armeniens, Levon Ter-Petrosian, bewahrheitet hat: Dass Armenien Bergkarabach auf Dauer nicht werde halten können und dass eine von Aserbaidschan unabhängige Republik international nicht akzeptiert werde. Weil er sich für einen Kompromiss, eine Autonomie Bergkarabachs innerhalb Aserbaidschans, einsetzte, musste Ter-Petrosian 1998 zurücktreten.
Korruption schwächte Armee
Seine beiden Nachfolger stammten aus Bergkarabach und blieben bei der harten Linie, während sie es versäumten, auf die Aufrüstung Aserbaidschans zu reagieren. Sie ließen es sogar zu, dass die Streitkräfte durch Korruption noch geschwächt wurden. Es war ein Grund, warum Nikol Paschinjan 2018 mit friedlichen Protesten einen Machtwechsel herbeiführen konnte.
Doch unter dem Druck der Bevölkerung nutzte auch er scharfe Rhetorik und zeigte wenig Kompromissbereitschaft, während Aserbaidschan immer offener eine militärische Lösung des Konflikts androhte.
Politische Spannungen
Heute versucht Paschinjan, Armenien von allen Gefahren durch Verzicht auf historisch begründete Gebietsansprüche fernzuhalten. Dass er Aserbaidschan immer wieder entgegenkommt, ohne dass Präsident Ilham Alijew entsprechende Zugeständnisse macht, sorgt für immer neue Proteste insbesondere unter den Bergkarabach-Armeniern.
Paschinjan verwehrt ihnen eine Exilregierung in Armenien. Deren politische Repräsentanten könnten vereint mit der Opposition um die beiden Vorgänger und der Kirche eine starke Gegenmacht bilden. Doch deren erfolglose Protestaktionen zeigen: Eine Mehrheit der Bevölkerung ist müde und möchte ein friedliches Leben führen.
Armenien als Zwischenstation
Die mehr als 100.000 Flüchtlinge aus Bergkarabach sind ohnehin eine Herausforderung für den schwach aufgestellten Staat mit seinen kaum drei Millionen Einwohnern. Die Forderungen nach fortdauernder finanzieller Unterstützung der an Subventionen gewöhnten Bergkarabach-Armenier führen zu Spannungen mit der überwiegend armen Bevölkerung Armeniens.
Land und Wohnraum gibt es, aber die Mieten sind teuer und Arbeit ist rar. So sehen viele Armenien als Zwischenstation, bis Juli hatten laut offizieller Statistik mehr als 11.000 Bergkarabach-Armenier das Land verlassen. Da viele über Pässe Russlands verfügen, zieht es sie dorthin. Auch der Sohn von Jelena, einer Schicksalsgenossin von Susanna Basardjan in Vardenis, folgte Freunden nach Russland. Ob er sich dort als erfahrener Artillerie-Soldat dem Militärdienst entziehen kann und will, ist offen.
Teile dieses Artikels basieren auf einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten Recherchereise durch Armenien, die Reisekosten trägt der NDR.