Machtwechsel in Singapur "Keine Demokratie, aber auch keine Autokratie"
Singapurs Premier Loong übergibt heute sein Amt an den bisherigen Finanzminister Wong. Ein historischer Tag, aber kein Umbruch für den straff geführten Stadtstaat, meinen Experten. Doch es gibt Herausforderungen.
Er freue sich darauf, sein Amt an Lawrence Wong zu übergeben, sagte Lee Hsien Loong vor Kurzem über seinen designierten Nachfolger. Mit der grauen Windjacke, die der 72-Jährige leger über seinem hellblauen Business-Hemd trug, sah er bereits aus wie ein "elder statesman", der mit Gelassenheit seine Macht an einen Jüngeren abgibt.
Lee hatte im vergangenen November bekannt gegeben, dass er dieses Jahr in den Ruhestand gehen werde. Ursprünglich hatte er geplant, vor seinem 70. Geburtstag zurückzutreten. Doch diese Pläne hatte er aufgrund der Covid-19-Pandemie auf Eis gelegt. Es brauche Stabilität in dieser schwierigen Zeit, begründete er sein Weitermachen damals.
20 Jahre war Lee Premierminister des südostasiatischen Stadtstaats, wird nun als Senior Minister weiter der Regierung angehören. Er ist der älteste Sohn des Gründervaters Lee Kuan Yew, der noch heute von vielen Singapurern als Visionär und Begründer des heutigen Wohlstands verehrt wird. Singapur ist eines der reichsten Länder der Welt, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf.
Wong war nicht die erste Wahl
Der neue Premierminister Wong ist Finanzminister, stellvertretender Premierminister und ist seit April 2022 für das Amt vorgesehen. Der 51-Jährige ist erst der vierte Regierungschef, den Singapur in seiner rund 60-jährigen Geschichte hat und zugleich der erste, der nach Singapurs Unabhängigkeit im Jahr 1965 geboren wurde. Wie alle seine Vorgänger gehört er der lang regierenden People’s Action Party (PAP) an.
Wongs Vereidigung im Nationalpalast sei "ein bedeutsamer Moment", schreibt Singapurs Premierminister Lee Hsien Loong auf seiner Facebook-Seite. Dabei war Wong nicht die erste Wahl der PAP: Eigentlich sollte der amtierende Wirtschaftsminister Heng Swee Keat das Amt übernehmen, der seit Jahren dafür aufgebaut wurde. Im Jahr 2021 zog er sich dann überraschend zurück, nachdem er bei der Parlamentswahl nur wenig Stimmen holen konnte.
Wahlrecht macht es der Opposition schwer
"Man kann Singapur keine Demokratie nennen, aber auch keine Autokratie", sagt Michael Barr von der Flinders University in Australien, der sich seit Jahrzehnten mit dem politischen System Singapurs beschäftigt.
Auf dem Papier ist Singapur eine parlamentarische Demokratie, die ein Mehrparteiensystem hat. Es gibt freie und faire Wahlen. De facto stellt die PAP jedoch seit der Staatsgründung 1959 ununterbrochen die Regierung. Das politische System ist auf sie zugeschnitten. Die Opposition hat es schwer.
Seit den 1980er-Jahren sei das Wahlrecht so verändert worden, dass kleinere Parteien kaum mehr Einfluss gewinnen können, sagt Barr. Obwohl die Opposition bei der letzten Wahl im Jahr 2020 rund 40 Prozent der Stimmen geholt hat, hält sie nur rund zehn Prozent der Sitze im Parlament. Angelehnt an das britische Wahlrecht gilt: "The winner takes it all".
Niedrige Einstufung auf Demokratieskalen
Die US-amerikanische NGO Freedom House stuft Singapur als "teilweise frei" ein. Der Bertelsmann Transformationsindex sieht Singapurs Staatssystem als "gemäßigte Autokratie": Singapur erzielt 5,47 von 10 Punkten im Index für Demokratie.
Gründungsvater Lee Kuan Yew schrieb in seinem 1998 erschienen Buch "Lee Kuan Yew: The Man and His Ideas", dass die Menschen sich nicht nach Demokratie sehnten. Sondern sie wollten in erster Linie "ein Zuhause, ärztliche Versorgung, Arbeit, Schulen".
Meinungs-, Versammlungs- sowie Vereinigungsfreiheit sind in Singapur eingeschränkt. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht das Land weit unten: auf Platz 126 von 180. Das Streikrecht ist zwar in der Verfassung verankert, kann aber de facto nur eingeschränkt ausgeübt werden.
So wurde ein Busfahrerstreik im Jahr 2012 für illegal erklärt, weil er nicht vorher angekündigt worden war, die Anführer wurden verhaftet. Die Regierung begründete dies mit einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung. Ihr wichtigstes Ziel ist erklärtermaßen: Harmonie in seiner multiethnischen Gesellschaft und sozialer Frieden.
Regierung ohne PAP? "Ich hoffe nicht"
Mit diversen Gesetzen versucht die Regierung seit einigen Jahren die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs zu behalten. NGOs, Wissenschaftler oder Amnesty International kritisieren, dass die Gesetze wie das zur Online-Sicherheit dazu dienen, abweichende Meinungen zu unterdrücken.
Der scheidende Premier erklärte in einem Interview bei Channel News Asia zu seinem Abschied: "Alle Meinungen werden geäußert und Fragen ohne Zurückhaltung gestellt, beantwortet und debattiert." Seine Regierung habe ein starkes Mandat des Volkes. Abweichende Meinungen würden gehört und nicht unterdrückt.
Doch die Regierung sieht sich auch wachsender Kritik gegenüber. Sie verteilt daher schon seit einiger Zeit kleine Geldgeschenke an die Bevölkerung - Wong durfte viele davon noch als Finanzminister ankündigen. In einem CNA-Interview sagte Lee Hsien Loong auf die Frage, ob er sich auch eine Regierung ohne die PAP vorstellen könnte: "Ich hoffe nicht. Wir werden uns als PAP sehr anstrengen, dass wir weiterhin das Mandat des Volkes gewinnen und unsere Position halten." Es könne aber passieren, dass der PAP dies einmal nicht mehr gelinge.
Wongs große Herausforderungen
Dies zu verhindern, ist nun Wongs Aufgabe. Der neue Premier wird gleichzeitig Finanzminister bleiben, womit er vor allem in der Anfangszeit viel Macht auf sich bündelt. Ändern dürfte sich mit ihm wenig, seine größte Herausforderung wird die anstehende Parlamentswahl, die vor Ende 2025 stattfinden muss. Er gilt als besonnen und volksnah, in seinem Wahlkreis war er beliebt. Seit 2011 ist er in der Politik, gilt als kompetenter Minister und guter Kommunikator, der während der Covid-Pandemie verstärkt im Rampenlicht stand.
Wong sei eine sichere Wahl, sagt der Politikwissenschaftler Michael Barr von der Flinders University in Australien. Allerdings fehle es ihm an außenpolitischer Erfahrung und möglicherweise an der nötigen Vision, um die zahlreichen Herausforderungen anzugehen, vor denen Singapur steht: "Inmitten politischer Skandale und einer immer lauter werdenden Opposition wird Wong ein Gleichgewicht zwischen Kontinuität und mutiger Führung finden müssen, um den weiteren Erfolg Singapurs zu sichern."
Wenn er die Wahlen gut meistert und internen Machtkämpfen standhält, könnte er wie seine Vorgänger locker ein Jahrzehnt oder länger an der Macht bleiben.