Aktionskunst zur US-Wahl Postkarten an den nächsten US-Präsidenten
"Write a postcard to the next president" steht auf einem Schild hinter Sheryl Oring. Und der Andrang ist groß: Mit ihrer Performance entlockt die Aktionskünstlerin Passanten spannende Details zum politischen Klima in den USA.
Sheryl Oring sitzt im knallroten Kleid mit streng hochgesteckten Haaren in der Fußgängerzone von Alexandria im Bundesstaat Virginia. Ein Rennradfahrer, der gerade Pause macht, hat sich zu ihr an den Tisch gesetzt, den Fahrradhelm noch auf dem Kopf. Und schon geht es los, mit seiner Postkarte an den nächsten Präsidenten - oder wie er hofft: an die erste Präsidentin. "Dear Madam President…" diktiert er seine Anrede.
Allein schon das Klappern einer alten Schreibmaschine macht viele Passanten neugierig. Die Studentin Arusa hat so ein Ding, wie sie sagt, noch nie gesehen. "Ich bin 21 und kann zum ersten Mal wählen", so Arusa. "Ich will mich bei Kamala Harris bedanken, dass sie so viele junge Frauen wie mich inspiriert."
Viele Wünsche an die Politik
Nicholas, 35, hat viele Freunde, die drogenabhängig sind. Sein Postkarten-Wunsch lautet: "…zu helfen, um Armut und Drogensucht zu bekämpfen."
Peggy, 69, ist begeistert von dieser Performance und liest ihre Postkarte gleich vor: "Verehrter Präsident, hören Sie auf unsere Stimmen, respektieren Sie unsere Stimmen - und bitte sagen Sie uns die Wahrheit." Dies sei eine Botschaft an denjenigen, wer auch immer gewählt werde, meint sie - und ergänzt lächelnd: aber vielleicht dringender, falls Herr Trump gewinnt. Schickt sie die Postkarte denn tatsächlich ab? "Zum Teufel, ja!", lacht Peggy.
Jeder, der mitmacht, erhält seine Postkarte ans Weiße Haus am Ende samt Adresse und Briefmarke fertig zum Abschicken. Es bleibt allen selbst überlassen, ob sie es wirklich tun. Einen Durchschlag jeder Karte, mit Kohlepapier in der Schreibmaschine mitgetippt, behält die Künstlerin für ihr Archiv.
Neutralität als oberstes Gebot
Sheryl Oring will die Aktion bis 100 Tage nach Amtseinführung von Trump oder Harris am 20. Januar fortsetzen, bis Ende April kreuz und quer durchs Land reisen. Wichtig ist ihr dabei, sich selbst neutral zu verhalten: "Ich habe Botschaften von Trump-Unterstützern und von Harris-Unterstützern geschrieben - da bin ich völlig offen", sagt sie. Der Kern der Aktion sei, die Leute zum Nachdenken zu bringen, was für sie persönlich wichtig ist.
"Wenn ich ihnen dann förmlich ansehe, wie es im Kopf arbeitet, ihre Gedanken kreisen - diesen Moment liebe ich", sagt Oring. Neulich hatte sie in Chicago eine College-Absolventin, die am Ende den Tränen nahe sagte, sie habe bisher noch nie das Gefühl gehabt, dass ihr wirklich jemand zuhört. "Das ist es, was das Projekt für mich ausmacht", betont die Künstlerin. "Menschen eine Stimme geben, die sich sonst nicht gehört fühlen."
Störfaktor Smartphone
Das erste Mal hat Oring die Performance mit dem Titel "I wish to say" vor 20 Jahren gemacht, im Jahr der Wiederwahl von George W. Bush. Der größte Unterschied zu damals? Das Handy. "Es ist schon viel schwieriger heutzutage, für eine Pop up-Show dieser Art Beteiligte zu finden, weil so viele Leute, die vorbeigehen, nur mit ihrem Smartphone beschäftigt sind." Meist übernimmt ein Assistent oder eine Assistentin die Rolle, Passanten anzusprechen.
Auf der anderen Seite zieht das Sekretärinnen-Outfit aus den 1960 Jahren gerade junge Leute an: "Sie fragen sich, wer ist diese verrückte Frau mit diesem komischen Schreibgerät", sagt Oring. "Und schon fangen sie an, sich zu öffnen."
Ein enges Rennen
Die Performance ist auch ein Stück Erinnerung an ihre Großmutter, die selbst Sekretärin war und "alle möglichen bunten, schicken Kleider im Schrank hatte", die ihr schon als Kind gefallen haben.
Oring spricht auch deutsch, sie hat länger in Berlin gelebt und 2005 in fünf deutschen Städten für die Aktion "Wenn ich Kanzler wäre…" Botschaften getippt. Sie überlegt, es im nächsten Jahr vor der Bundestagswahl wieder zu tun.
Aber erstmal geht es um die USA. Und wer gewinnt die Wahl am 5. November? Was glaubt sie? "Wenn ich jetzt schätzen muss, dann würde ich sagen Kamala Harris. Aber das wissen wir nicht. Es ist ziemlich eng."