Kriege, Krisen und Konflikte Die Welt im Dauerstress
Krieg in Europa, kenternde Flüchtlingsboote, ein überhitzter Planet - Hiobsbotschaften wie diese dominieren die Nachrichten und lassen uns oft überfordert zurück. Leben wir in besonders unruhigen Zeiten? Und was macht das mit unserer Gesellschaft?
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Auseinandersetzungen im Sudan, Bürgerkrieg in Syrien, blutige Proteste in Israel - das sind nur ein paar Beispiele für die aktuellen gewalttätigen Konflikte auf der Welt. Jeden Tag erreichen uns neue Nachrichten aus Krisengebieten, jeden Tag Tausende weitere Tote, jeden Tag weiteres Leid und jeden Tag das Gefühl, dass sich die Gewaltspirale immer nur in eine Richtung dreht: aufwärts.
Und als wäre das nicht genug, steht die Menscheit mit der Klimakrise vor einer der größten Herausforderungen in ihrer Geschichte. Erlebt die Welt derzeit eine Phase, in der es besonders unruhig ist?
"Wenn wir uns die globale Entwicklung anschauen, dann nehmen die gewalttätigen Konflikte in der jüngeren Vergangenheit tatsächlich zu. Das gilt auch für die Anzahl der Opfer", sagt Stefan Kroll, Leiter der Wissenschaftskommunikation am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
Zahl der Kriegstoten 2022 fast verdoppelt
Das bestätigen auch die Zahlen des Uppsala Conflict Data Program (UCDP), das umfängliche Daten zu der Zahl und Qualität militärischer Konflikte seit 1946 sammelt. Demnach hat sich die Zahl der in Kriegen und Konflikten getöteten Menschen 2022 verglichen mit dem Vorjahr fast verdoppelt. Mindestens rund 238.000 Menschen sind 2022 laut UCDP bei militärischen Konflikten getötet worden. Das entspreche einem Anstieg von 97 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und markiere gleichzeitig die höchste Zahl seit 1994, dem Jahr des Genozids in Ruanda.
Dazu beigetragen hätten maßgeblich die Eskalation der Lage in Äthiopien und der Ukraine, so der UCDP-Analyst Shawn Davies. Diese beiden Kriege hätten mindestens zu 180.000 kampfbedingten Todesfällen geführt - und dies seien niedrige Schätzungen, die wahrscheinlich deutlich nach oben korrigiert würden, wenn mehr Informationen verfügbar seien.
Ein militärischer Konflikt ist laut dem Uppsala Conflict Data Program eine Auseinandersetzung bei der es mindestens 25 Tote in Folge militärischer Handlungen gibt. Dabei gibt es drei Arten von militärischen Konflikten - einen staatlichen, einen nicht-staatlichen und einen einseitigen.
Bei ersterem ist mindestens ein Staat in den Konflikt verwickelt. Bei einem nicht-staatlichen Konflikt handelt es sich um einen Konflikt von nicht-staatlichen Organisationen. Die sogenannte Einseitige Gewalt bezeichnet den Einsatz militärischer Gewalt eines Staates oder einer Organisation gegen Zivilpersonen. Zu dieser Kategorie zählen beispielsweise Terroranschläge.
Wenn ein solcher Konflikt in einem Kalenderjahr zu mindestens 1.000 kampfbedingten Todesfällen führt, gilt er als Krieg.
Russlands Angriffskrieg ist eine Zäsur
Schaut man sich die Entwicklungen von Konflikten der letzten Jahrzehnte an, hat der russische Einmarsch in die Ukraine eine völlig andere Qualität. Es ist der erste groß angelegte zwischenstaatliche Krieg seit 20 Jahren. Zuletzt gab es einen solchen Krieg mit dem Einmarsch der USA in den Irak im Jahr 2003. Zudem ist der russische Angriffskrieg der erste zwischenstaatliche bewaffnete Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg, bei dem eine Großmacht sowohl territoriale Gewinne für sich selbst als auch die Unterwerfung eines anderen Staates durch einen Regimewechsel anstrebt.
"Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist empirisch ziemlich untypisch, weil es so einen zwischenstaatlichen Krieg sehr, sehr lange nicht mehr gegeben hat", sagt Konfliktforscher Kroll. Häufiger handele es sich bei gegenwärtigen Konflikten eher um innerstaatliche Kriege, Bürgerkriege, oder Kriege zwischen einem Staat und nichtstaatlichen Gewaltakteuren.
55 Konflikte, davon acht Kriege
Für das Jahr 2022 zählt das UCDP 55 verschiedene Konflikte mit staatlicher Beteiligung, von denen acht die Intensitätsstufe eines Krieges erreicht haben. In manchen Staaten herrschen zudem zeitgleich mehrere Konflikte. Rechnet man nicht-staatliche Konflikte etwa zwischen Rebellengruppen oder rivalisierenden Drogenkartellen in Mexiko hinzu, sind es insgesamt 82 Konflikte.
Nicht nur die Zahl der Konflikte nimmt zu, sondern auch deren Dauer. "Der jüngste Trend zur Internationalisierung von Konflikten, also, dass sich vermehrt Länder in die Konflikte anderer Länder einmischen, führt dazu, dass Konflikte länger und blutiger werden und auch schwieriger beizulegen sind", sagt Therese Pettersson vom UCDP. Angesichts der vielen autokratischen Führer und schwachen Staaten in der Welt, werde sich diese Entwicklung auf absehbare Zeit auch nicht umkehren.
Das Problem der Polykrise
Auch bei der Anzahl globaler Krisen zeigt die Kurve steil nach oben. "Im historischen Vergleich ist die Anhäufung von unterschiedlichen Krisen seit 2005, also seit der Weltwährungs- und Finanzkrise, durchaus bemerkenswert", so Kroll. Es habe schon immer Krisen gegeben, aber die derzeitige Häufung, die unter den Bedingungen der Globalisierung entstanden ist, die sei neu.
Das Problem ist aber nicht nur die bloße Zahl an Krisen und Konflikten, sondern auch deren Gleichzeitigkeit. "Wir haben es inzwischen mit einer sogenannten Polykrise zu tun - also mehreren großen Krisen zur gleichen Zeit", so Kroll. Das mache es wiederum schwerer, Lösungen für die jeweiligen Krisen zu finden, auch weil diese sich gegenseitig beeinflussen. "Wir sind gerade erst dabei, zu verstehen, wie diese ganzen Krisen ineinandergreifen, sich gegenseitig beeinflussen und auch voneinander abhängig sind."
Als Polykrise bezeichnet Adam Tooze, Wirtschaftshistoriker an der Columbia-University in New York, eine Situation, in der unterschiedliche Krisen so zusammenwirken, dass die Gesamtauswirkungen die Summe der einzelnen Teile weit übersteigen. Einzelne Krisen existieren demnach nicht einfach nebeneinander, sondern beeinflussen und verstärken sich gegenseitig.
"Eine nie dagewesene Situation"
Ein weiteres Problem sei es, dass akute Krisen wie etwa die Corona-Pandemie oder Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine die langfristigen und latenten Krisen wie etwa Ernährungssicherheit, Klimakrise, Migration oder Energiesicherheit, in den Hintergrund rücken ließen.
Das bestätigt auch Adam Tooze, Wirtschaftshistoriker an der Columbia University in New York: "Wir - und damit meine ich die ganze Welt und insbesondere Europa - sind konfrontiert mit einer nie da gewesenen Situation. Das ist, glaube ich, keine Übertreibung", so Tooze in einer Rede über die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik. "Ein mittelgroßer konventioneller Krieg in Osteuropa, atomares Säbelrasseln, ein entfesselter Wirtschaftskrieg mit Energie-Embargo", führt Tooze weiter aus. Diese Gleichzeitigkeit stelle eine immense Überforderung dar.
Eine Gesellschaft im Dauerstress
Eine Überforderung, die nicht ohne Folgen für die Gesellschaft bleibt. Die Menschen stehen angesichts der Nachrichtenlage unter Dauerstress, sagt Isabella Helmreich, wissenschaftliche Leiterin am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz.
"Der Mensch ist darauf getrimmt, auf negative Reize besonders zu reagieren. Das ist evolutionsbiologisch so bei uns angelegt, weil wir früher immer nach Gefahren Ausschau halten mussten, um unser Überleben zu sichern", so Helmreich. Daher springe das Alarmzentrum im Gehirn sehr leicht an, wenn man ständig mit negativen Nachrichten konfrontiert ist.
Bewegte Bilder im Fernsehen oder Internet machten diesen Eindruck noch extremer und realer. "Dann werden wir immer in eine Art Daueralarmbereitschaft versetzt, ohne dass wir direkt bedroht sein müssen, sondern es reicht eben schon, solche Dinge zu sehen oder zu hören", sagt die Resilienzforscherin.
Die Belastung nimmt zu
Viele Menschen fühlen sich daher zunehmend gestresst, das belegen auch zahlreiche Studien großer Krankenkassen. Laut einer aktuellen Erhebung der KKH fühlen sich 84 Prozent der 18- bis 70-Jährigen zumindest gelegentlich gestresst, 43 Prozent sogar häufig oder sehr häufig. Die Belastung nimmt dabei offenbar zu. Demnach hat gut jeder zweite Befragte das Gefühl, dass das Leben in den vergangenen ein bis zwei Jahren anstrengender und stressiger geworden ist.
Auch Resilienzforscherin Helmreich sieht die Häufung der Krisen als großes Problem. "Erst die lange Durststrecke, die wir während der Corona-Pandemie hatten und in der viele stark gefordert waren, weil man sein Leben komplett umkrempeln musste. Kaum war das vorbei und man hatte das Gefühl, man kann mal durchatmen, kam mit dem Krieg gegen die Ukraine schon die nächste Krise."
Die Chance der Zivilgesellschaft
Hinzu komme noch ein weiterer Aspekt: Die Corona-Krise habe der Gesellschaft großen Schaden zugefügt, indem sie existierende Gräben vertieft und die Menschen voneinander entfernt habe. "Das macht es umso schwieriger, die Gesellschaft jetzt wieder zusammenzubringen, so dass alle an einem Strang ziehen. Denn das ist nötig, um Dinge zu verändern und aktuelle Krisen bewältigen zu können", so Helmreich.
Genau in diesem zivilgesellschaftlichen Engagement sieht auch Konfliktforscher Kroll einen Lösungsweg. Denn wenn man sich anschaue, wie gut welche politischen Systeme durch vergangene Krisen gekommen seien, dann stünden Demokratien ganz gut da. "Das hat auch etwas damit zu tun, dass Krisen als gesamtgesellschaftliche Herausforderungen bewältigt werden müssen und dass es hilfreich ist, wenn sich die Zivilgesellschaft einbringen und mithelfen kann", so Kroll. Auch mit Blick auf die Klimakrise brauche es die Mithilfe der Zivilgesellschaft "im Sinne einer organisierten Gesellschaft die sämtliche Akteure von Wirtschaftsunternehmen bis hin zu Aktivistinnen miteinbezieht."
Überforderung ist völlig normal
Die Botschaft der Wissenschaftler ist eindeutig: Die Welt erlebt derzeit eine besonders unruhige Phase. Krisen existieren nicht mehr einzeln, sondern sind zu einem komplexen Netz verwoben, in dem sie sich gegenseitig beeinflussen und für deren Lösung es ebenso komplexe Antworten braucht.
Dass manche Menschen angesichts dieser Lage überfordert sind, sei völlig normal, so Helmreich. Es komme nun aber darauf an, nicht in Schockstarre zu verfallen, sondern als Gesellschaft zusammenzuhalten. Und vielleicht liegt bei all der Krise ja genau darin auch eine Chance.