Wildverbiss Jagd auf Rehe und Hirsche für klimastabile Wälder
Rehe und Hirsche fressen gern junge Bäume und damit werden sie zum Problem für den klimagerechten Waldumbau. Waldbesitzer suchen nun nach neuen Lösungen.
Unterwegs im Wald bei Pfullingen am Fuß der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg. Es regnet. Zwischen hohen Baumstämmen wachsen zahlreiche knöchel- bis hüfthohe Bäumchen. Ahorne und Eichen sind genauso darunter wie Eschen und Hainbuchen oder die Walnuss. Eine breite Mischung von Baumarten ist in Zeiten des Klimawandels besonders wichtig, erklärt Thorsten Beimgraben, Professor für Wildökologie und Jagdwirtschaft an der Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg.
"Wir wissen nicht genau, was in 30 oder 40 Jahren an Baumarten trotz Hitze und Trockenheit noch überleben kann. Wir müssen also mit einer möglichst breiten Palette an Baumarten in die Zukunft gehen, um zu sehen, was in einigen Jahrzehnten noch übrigbleibt."
Wildverbiss als Herausforderung für den Waldbau
Das Problem: Rehe, Rot- und Damhirsche fressen gern Keimlinge, Knospen, Blätter und Triebe von jungen Bäumen. Diese bleiben dann oft klein oder wachsen schief. Manche Baumarten können in der Folge lokal sogar ganz verschwinden. Aktuelle Zahlen aus der Bundeswaldinventur zeigen, dass in Deutschland innerhalb nur eines Jahres rund dreißig Prozent aller jungen Laub-Bäume frisch verbissen wurden. Bäumchen, die so klein sind, dass sie gleich nach dem ersten Verbiss sterben, sind dabei nicht mitgezählt.
Franz-Josef Risse, Leiter des Kreisforstamts Reutlingen, erinnert sich, wie es früher in Pfullingen aussah, genau dort, wo er jetzt steht. "Auf dieser Fläche hier waren vor zwanzig Jahren überhaupt keine jungen Bäume im Nachwuchs, weil sie alle schon im frühesten Stadium aufgefressen wurden."
Verbissene Jungbäume kümmern und wachsen langsamer.
Rehe sind Rosinenpicker
Der Förster hat ein Foto von einer Fichtenpflanzung aus einem anderen Revier im Landkreis dabei. Die Spitzentriebe wurden mit einem besonderen Wirkstoff behandelt, den Rehe nicht mögen. Aber alle Seitentriebe sind abgefressen. "Die Folge ist, dass die Bäume kümmern und langsamer wachsen. Außer den gepflanzten Bäumen ist alles andere aufgefressen. Da wächst dann nur noch Gras. Da ist kein Ahorn und keine Buche mehr, keine Esche oder Kirsche. Die Rehe mögen nämlich gar keine Fichte. Die Fichte fressen sie nur, wenn sie nichts anderes mehr finden."
Wenn am Ende nur noch wenige Baumarten übrigbleiben, nennt sich das "Entmischung". Ausgerechnet die flach wurzelnde Fichte, die die Rehe häufig bis zuletzt stehen lassen, gehört zu den ersten Opfern von Dürre, Borkenkäfer und Stürmen. Davon zeugen riesige kahle Flächen etwa im Sauerland, im Westerwald und im Harz.
Jäger und Waldbesitzer im Interessenskonflikt
In deutschen Wäldern lebe so viel Wild wie noch nie in der Geschichte, so Wildökologe Beimgraben. Die Tiere haben kaum mehr natürliche Feinde wie Wolf oder Luchs. Und viele Jäger hätten traditionell andere Interessen als den Wald zu schützen, meint der Wissenschaftler, der selbst auch Jäger ist.
"In der Regel will ein Jäger einen höheren Wildbestand haben, als er der Waldbewirtschaftung dienlich wäre. Er will häufig Trophäen haben. Ihn interessieren die männlichen Tiere, die Geweihe tragen, also Rehböcke und Hirsche. Ich bin selbst in einem Revier aufgewachsen mit klassischer Schulung. Da wurden einfach keine weiblichen Tiere erlegt, weil sie ja wieder männliche Nachkommen produzieren, die dann wieder ein Geweih auf dem Kopf haben." Aber auch Ricken, also weibliche Rehe, und Hirschkühe knabbern an jungen Bäumen.
Pfullingen hat die Jagd neu organisiert
Im Pfullinger Stadtwald gab es vor zehn Jahren trotz Zielvereinbarungen mit den Jagdpächtern so massiven Wildverbiss, dass der Wald drohte, seine Nachhaltigkeitssiegel nach dem FSC- und dem PEFC-Standard zu verlieren. Auch die Auszeichnung als NABU-Naturwaldbetrieb stand auf dem Spiel, berichten die Forstexperten.
Der damalige Revierförster und die Stadt zogen die Reißleine. Jagdpachtverträge über sechs Jahre gibt es dort nun nicht mehr. Stattdessen haben die Waldbesitzenden die Regie übernommen. Gegen eine Gebühr erhalten Jägerinnen und Jäger sogenannte Begehungsscheine für jeweils ein Jahr, erläutert Kreisforstamtsleiter Risse.
"Immer von einem Jahr zum nächsten wird entschieden, ob sie in Pfullingen weiterjagen, oder ob sie nicht mehr hier jagen. Sie können die Gebühren reduzieren, wenn sie mehr Rehe erlegen, so dass es für sie auch interessant ist, erfolgreich zu sein." Wer nicht genug Wild erlegt, bekommt keine Verlängerung. Es gebe genügend Jäger, die sich bereitwillig auf die neuen Regeln einlassen. Man führe sogar eine Warteliste.
"Es geht nicht darum, die Rehe auszurotten", betont Risse. "Uns geht es darum, die Wildbestände so zu regulieren, dass wir die Artenvielfalt im Wald sicherstellen können." Die Umstellung der Jagd in Pfullingen hatte Erfolg, freut sich der Förster. Unabhängige Gutachter hätten bestätigt, dass der Wildverbiss deutlich zurückgegangen ist.
Jagdverband fordert mehr Kooperation von Jagd und Forst
Die Forderung, mehr Wild zu schießen, findet Torsten Reinwald, Biologe und Sprecher des Deutschen Jagdverbands, allerdings "viel zu eindimensional". Das sei ein "Schlachtruf aus den 1980er Jahren", der nur auf den Holzweg führe.
Reinwald sagt, es komme immer auf die Situation vor Ort an. An Aufforstungsflächen sei intensive Jagd gefragt. Gleichzeitig müssten neu gepflanzte Bäume aber mit Kunststoff-Clips an den Spitzen, Wuchshüllen oder Zäunen geschützt werden. Außerdem sei es wichtig, Rehe richtig zu lenken, nämlich dahin, wo sie ihre Ruhe haben und wo sie fressen dürfen. "Es braucht lokal angepasste Konzepte. Und dafür müssen Jagd und Forst ganz eng zusammenarbeiten." Immer wieder scheint aber genau das nicht zu klappen.
Wildschäden auch ein wirtschaftliches Problem
Die kleine rheinland-pfälzische Nationalparkgemeinde Malborn-Thiergarten hat sich vor einigen Jahren ausrechnen lassen, wie hoch die Schäden sind, die Wildtiere im Gemeindewald anrichten. Über 26.000 Euro Verlust pro Jahr fielen demnach an, weil Hirsche die Rinde von Bäumen geschält hatten. Wichtige Baumarten konnten wegen Wildverbiss nicht von selbst nachwachsen. Darum mussten Bäume neu gepflanzt werden, Kostenpunkt rund 25.000 Euro pro Jahr. Außerdem musste der Wald etwa mit Zäunen gegen Wild geschützt werden, für mindestens 50.000 Euro pro Jahr. In der Summe machte das jährlich mindestens 100.000 Euro an wirtschaftlichen Einbußen.
Dagegen brachte die Verpachtung des Jagdrechts bestenfalls einen niedrigen fünfstelligen Betrag im Jahr. Gespräche mit den Jagdpächtern seien lange weitgehend ergebnislos verlaufen.
Mangelnde Kommunikation zwischen Jägern und Waldbesitzern
Im Auftrag des Bundes erforscht die Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg das Verhältnis zwischen Jägern und Waldbewirtschaftern. Dafür haben die Forschenden zahlreiche Interviews geführt und festgestellt, dass in der Kommunikation einiges schiefläuft, erzählt Jagdwissenschaftler Beimgraben. "Der Jäger versteht häufig überhaupt nicht das Problem, das den Förster oder Waldbesitzer umtreibt." Es gebe eigentlich so viele Jäger wie nie. Diese Jäger seien aber zunehmend schlecht ausgebildet.
Die Hochschule Rottenburg bietet sogenannte "Waldjägerlehrgänge" an, um darüber aufzuklären, welche Auswirkungen Rehe und Hirsche auf den Wald haben können.
Umstellung auf Jagd in Eigenregie als letztes Mittel
Jagdwissenschaftler Beimgraben beobachtet, dass kommunale Forstbetriebe in Baden-Württemberg die Jagd wegen der Herausforderungen des Klimawandels inzwischen zunehmend in die eigene Hand nehmen. Das heißt "Regie-Jagd". Im Staatsforst des Landes sei das schon lange üblich. "Keiner will die Umstellung auf Regie-Jagd. Sie ist dann notwendig, wenn die Jagd mit dem Jagdpächter nicht funktioniert."
Noch ist der Anteil der Eigenregie-Jagden klein. Aber das Interesse der Waldbesitzenden steigt bundesweit, heißt es beim Ökologischen Jagdverband. Auch die rheinland-pfälzische Ortsgemeinde Malborn-Thiergarten im Hunsrück hat auf Eigenbewirtschaftung umgestellt und damit eine private Firma beauftragt.