Ein Knochenstück mit einem Lineal.

Anthropologie Ältestes Genom des modernen Menschen entschlüsselt

Stand: 12.12.2024 20:00 Uhr

Wann traf der moderne Mensch auf den Neandertaler? Forschenden ist es gelungen, diese offene Frage der Menschheitsgeschichte zu klären. Dafür untersuchten sie unter anderem das älteste Genom eines modernen Menschen.

Von Veronika Simon, SWR

Die Menschenknochen, die in der Ilsenhöhle in Ranis in Thüringen gefunden wurden, sind nur ein paar Zentimeter lang und ziemlich unscheinbar. "Wir hatten großes Glück, dass sie überhaupt entdeckt wurden", sagt Arev Sümer.

Am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig untersuchte sie die Knochenstücke. Und das Glück riss nicht ab: Die Knochen waren sehr alt, etwa 45.000 Jahre. "So alte DNA ist meistens schon zerfallen, hat eine schlechte Qualität oder ist kontaminiert", so Sümer. Meistens könne man aus so alten Proben kaum genetische Informationen gewinnen.

Ältestes Genom eines modernen Menschen

In diesem Fall aber waren die Erbinformationen sehr gut erhalten, sagt Johannes Krause, Direktor der Abteilung für Archäogenetik des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie: "Wir haben hier den besterhaltenen Knochen aus der gesamten Eiszeit!" Durch die Analysen konnten die Forschenden das älteste Genom eines Homo sapiens, also eines modernen Menschen, erstellen. Ihr Ergebnisse veröffentlichten sie jetzt in der Fachzeitschrift Nature.

So waren sie in der Lage, das Aussehen und die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Menschengruppe zu rekonstruieren: Offenbar hatten die frühen modernen Menschen eine dunkle Haut, dunkle Augen und dunkle Haare. Unter ihnen waren eine Mutter mit Tochter, mehrere Männer und Frauen. Die Gruppen aus den zwei Fundorten in Thüringen und Tschechien waren sogar entfernt verwandt.

Eine Illustration, wie die Menschen früher ausgesehen haben könnten.

So könnten sie ausgesehen haben: die frühen modernen Menschen

Keine Vorfahren von heutigen Europäern

Direkte Vorfahren von heutigen Europäern waren sie allerdings nicht, sagt Johannes Krause: "Das war eine der ersten Gruppen von modernen Menschen, die nach Europa kamen." Sie seien jedoch wieder ausgestorben. "Sie haben keine Nachkommen hinterlassen, die in heutigen Menschenpopulationen vorkommen." Insgesamt habe es in Zentraleuropa nur wenige moderne Menschen gegeben, so Krause: "In unserer Studie konnten wir zeigen, dass zwischen Großbritannien und Polen nur ein paar hundert Individuen lebten, es war also eine kleine Gruppe."

Eines hatte diese Gruppe früher Europäer jedoch mit allen heutigen Menschen gemeinsam, deren Vorfahren nicht ausschließlich aus Afrika stammen: Sie trugen beziehungsweise tragen Gene einer anderen Menschenart in sich - des Neandertalers.

Dass moderner Mensch und Neandertaler sich gemischt und gemeinsame Nachkommen gezeugt haben, wusste man bereits. "Wahrscheinlich fand das im Nahen Osten statt. Dort trafen sie aufeinander, nachdem der moderne Mensch aus Afrika Richtung Europa und Asien wanderte", so Krause. Unklar war bisher jedoch, wann genau das stattfand.

"Mithilfe dieser Genome aus Thüringen und aus Tschechien konnten wir das jetzt datieren, da wir hier lange Abschnitte von Neandertaler-DNA gefunden haben." Das Ergebnis: Die Vermischung von Neandertaler und Homo sapiens muss vor 45.000 bis 49.000 Jahren stattgefunden haben. "Das ist später als man bisher angenommen hat", so Krause.

Modellierung von alten Genomen unterstreicht Ergebnis

In einer zweiten, unabhängigen Studie nutzten eine Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts in Leipzig und der University of California Berkley in den USA eine andere Methodik, um ebenfalls herauszufinden, wann es zu diesem Austausch von genetischem Material zwischen den Menschenarten kam. Ihre Ergebnisse wurden jetzt in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht.

Dafür analysierten sie 59 alte Genome, die zwischen 2.000 und 45.000 Jahre alt waren und verglichen sie mit knapp 200 Genomen von heutigen Menschen. "Wir haben abgelesen, wo im Genom die Neandertaler-Fragmente zu finden sind und wie lang sie sind", erklärt Leonardo Iasi, Autor der Science-Studie. Daraus konnten sie ableiten, dass die Vermischung von Homo sapiens und Neandertaler über einen Zeitraum von etwa 7.000 Jahren stattfand, das sei zwischen 50.500 und 43.500 Jahren her.

Diese Erkenntnis passt genau zu den Ergebnissen aus den Knochen, die in Ranis gefunden wurden. "Das war natürlich eine schöne Bestätigung: Die Analyse der sehr alten Knochen aus Thüringen und Tschechien und unsere Modellierungen kommen zu dem gleichen Schluss", so der Evolutionsgenetiker Iasi.

Vorteilhafte Merkmale bleiben, andere verschwinden

In weiteren Analysen konnten er und das Forschungsteam zeigen, dass es große Ähnlichkeiten zwischen den unterschiedlichen alten Genomen von modernen Menschen gibt: Die Abschnitte im Erbgut, in denen man Neandertaler-Gene findet, sind häufig ähnlich und lassen sich in sehr vielen Individuen finden. "Gleichzeitig gibt es Regionen im Genom, wo man gar keine genetischen Spuren der Neandertaler sieht", so Iasi.

Das deute darauf hin, dass sich bestimmte Merkmale, die durch Neandertaler vererbt wurden, von Vorteil waren und sich in der folgenden Population durchsetzen. Das könnten zum Beispiel Anpassungen der Hautpigmentierung oder des Immunsystems an die europäische Umgebung sein. Andere Merkmale der Neandertaler wurden offenbar recht schnell "aussortiert".

45.000 Jahre - kaum vorstellbar

Für Arev Sümer bleiben noch viele interessante Fragen offen: Sie und das Forschungsteam werden weitere Funde aus Thüringen und Tschechien analysieren und die genetischen Daten dieser frühen Europäer mit modernen Menschen aus anderen Regionen vergleichen.

Die Arbeit mit so alten Knochen werde dabei aber nur bedingt zur Routine: "Wenn ich so altes Material in den Händen halte, ist das immer noch sehr beeindruckend." Und es übersteige die menschliche Vorstellungskraft: "Wir können uns 45.000 Jahre nicht wirklich vorstellen. Was haben diese Menschen gemacht? Wie bildeten sie ihre Gruppen, wie sah ihr Alltag aus?" Im Detail wisse man das nicht.

Die neuen Erkenntnisse über die Menschen in Zentraleuropa vor 45.000 Jahren seien aber nicht nur aus evolutionärer Sicht interessant, erklärt der Archäogenetiker Johannes Krause. "Wir haben hier die ältesten Genome eines Homo sapiens, also eines modernen Menschen - das ist auch relevant für andere Disziplinen!" Diese Daten seien eine wichtige Grundlage um zu vergleichen, was sich in den vergangenen 45.000 Jahren verändert hat - in der Biologie des Menschen, der Entwicklung oder der Lebensräume.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet die tagesschau am 12.12.2024 um 20 Uhr.