ESA-Astronaut Maurer "Das sollte für Europa ein Weckruf sein"
Was bedeutet der erste Weltraumflug eines Europäers mit einer kommerziellen Kapsel? Er habe die Sorge, dass Europa in der Entwicklung überholt werde, sagt ESA-Astronaut Matthias Maurer, der im Herbst zur ISS fliegen soll.
tagesschau.de: Wo sind Sie gerade und von wo werden Sie den Start Ihres ESA-Kollegen Thomas Pesquet verfolgen?
Matthias Maurer: Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich den Start live am Cape Canaveral in Florida mitverfolgen kann. Aber mein Trainingsplan ist so dicht gestrickt, dass ich weiter in Houston trainieren muss. Den Start schaue ich mir daher aus dem Kontrollzentrum in Houston an. Ich habe dort Zugang zu allen Funkverbindungen. Das heißt: Meine Crew und ich werden genau verfolgen, wie die Funkverbindung läuft in den letzten Stunden vor dem Start. Und wir nehmen das als aktive Lerneinheit für uns mit. Ich werde noch bis zum Herbst hier in Houston sein. Dann soll ich nämlich selbst zur ISS starten.
Matthias Maurer hat sich mit Forschungen in Materialwissenschaft und Werkstofftechnik einen Namen gemacht. Seit 2015 ist er Mitglied des Europäischen Astronautenkorps. Im Herbst 2021 soll er als zwölfter Deutscher ins All fliegen.
"Da können wir nicht einfach so zuschauen"
tagesschau.de: Der Start von Thomas Pesquet ist in mehrerer Hinsicht besonders: Zum ersten Mal seit zehn Jahren fliegt wieder ein Europäer von amerikanischen Boden aus ins All - und das mit einem kommerziellen Anbieter.
Maurer: Ja, genau. Seit 2011 ist kein Europäer mehr von den USA aus in den Weltraum gestartet, der letzte war der italienische ESA-Astronaut Roberto Vittori an Bord des NASA-Space-Shuttles. Jetzt ist es Thomas Pesquet, an Bord einer kommerziellen Kapsel. Wir sehen jetzt: Firmen, also kommerzielle Anbieter, sind in der Lage, Astronauten ins Weltall zu schicken. Ich denke, das sollte auch für uns in Europa ein Weckruf sein. Wenn Firmen in den USA in der Lage sind, diese Technologie zu meistern, dann sollten wir als Europa uns auch daran machen.
tagesschau.de: Wird Europa gerade abgehängt?
Maurer: Wir sehen weltweit, dass sehr viele Nationen daran arbeiten, und ich habe so ein bisschen die Bedenken, dass wir als Europäer überholt werden. Indien wird 2022 zum ersten Mal eigene Astronauten mit einer eigenen Kapsel ins Weltall schicken. Die Chinesen haben diese Technologie bereits, bauen sogar eine eigene Raumstation auf, und in den USA sehen wir gleich mehrere Firmen. SpaceX ist eine der Firmen, Boeing ist eine zweite Firma, Blue Origin steht in den Startlöchern und fliegt bald Menschen suborbital. Ich denke, da können wir nicht einfach so zuschauen. Da müssen wir auch reagieren in Europa.
"Europas Milliardäre investieren lieber in Kunst als in Raumfahrt"
tagesschau.de: Die ESA hat ja ein eigenes astronautisches Raumfahrtprogramm, aber kein eigenes Transportsystem, um Astronauten in den Weltraum zu bringen. Fehlen kommerzielle Partner? So jemand wie Elon Musk, der Gründer von SpaceX, ist natürlich auch ein Glücksfall für die US-Raumfahrt, oder?
Maurer: Sie haben recht. Elon Musk ist niemand, der rein wie ein normaler Firmenbesitzer handelt und sagt: Ich baue jetzt Raketen, weil das ein solides Geschäftsmodell ist. Er sagt: Ich bin begeistert von der Idee. Ich möchte Menschen Richtung Mars fliegen, und ich bin bereit, dafür mein eigenes Kapital einzusetzen. Aber er ist nicht der Einzige, es gibt noch einen zweiten Akteur, das ist der Gründer von Amazon, Jeff Bezos mit der Firma Blue Origin. Das sind Akteure in den USA - Milliardäre -, die von dem Thema Raumfahrt begeistert sind. Ich denke, die Milliardäre in Europa investieren lieber in Kunst als in Raumfahrt. Aber das ist natürlich auch eine persönliche Entscheidung.
tagesschau.de: Kommen wir zu Ihrem Flug mit SpaceX im Herbst. Was trainieren Sie bis dahin noch?
Maurer: In den letzten sechs Monaten vor dem Start trainiert man sehr viel die Experimente, die man durchführen wird. Aber ich trainiere natürlich auch, wie die Crew-Dragon-Kapsel genau funktioniert. Hier steht zum Beispiel ein Überlebenstraining an, wenn die Kapsel im Wasser landet. Unter Normalbedingungen landen wir an einer Stelle, die genau definiert ist. Dann kommen Rettungsteams und ziehen die Kapsel an Bord eines Schiffs. Aber in Extremfällen könnten wir auch an Stellen landen, wo keine Rettungsteams vorhanden sind. Dann müssen wir unter Umständen bis zu 48 Stunden auf hoher See durchhalten und warten, dass wir gerettet werden.
tagesschau.de: Wenn Sie zur ISS fliegen, ist Ihr Kollege Thomas Pesquet noch dort. Dann gibt es sozusagen eine europäische WG im All.
Maurer: Ich freue mich total darauf, Thomas Pesquet im All zu treffen. Er wird dann Commander der ISS sein und ich bin Neuling. Er darf mich dann einarbeiten in das europäische Columbus-Modul, unser Wissenschaftslabor. Er wird mir die ISS zeigen und dort dann erklären, was genau wie funktioniert. Wir haben immer noch ein paar Unterschiede zwischen den Trainingsmodulen hier auf dem Boden und der Version im Weltall.
Mein Start ist voraussichtlich am 23. Oktober. Wir werden eventuell eine Überlappung von fünf bis zu zehn Tagen haben. Das liegt daran, dass wir mit vier Leuten in der SpaceX-Kapsel zur ISS fliegen. Auf der ISS sind bereits sieben Leute. Wenn wir dazukommen, sind wir elf. Die Station ist eigentlich nicht für einen Dauerbetrieb mit elf Leuten ausgelegt. Das fängt schon damit an, dass wir dann vielleicht nicht genügend Toiletten und Schlafkabinen haben. Von daher ist die Phase des Überlappens auf wenige Tage begrenzt.
Das Interview führte Ute Spangenberger, SWR