Deutsche Abwehrsysteme Kaum Schutz vor Angriffen aus der Luft
Seit Russlands Überfall auf die Ukraine steckt Deutschland viele zusätzliche Milliarden in die Bundeswehr. Doch zentrale Projekte dauerten zu lange, kritisieren Experten.
Die kleinste Verunreinigung kann die Arbeit der rund 85 Mitarbeitenden in der hauseigenen "Microwave Factory" zunichte machen. Beim Rüstungshersteller Hensoldt findet die Produktion von Sende- und Empfangsmodulen für Radare deshalb in einem Reinraum statt. In die nahezu staub- und keimfreie Umgebung kommt nur, wer sich vorher Schutzkleidung überstreift und durch eine Schleuse geht.
Fläche günstiger als Leistung
"Die Module, die hier entstehen, sind als geheim eingestuft", sagt Fabian Kast, Head of Microwave Components bei Hensoldt. Das, was hier entstehe, seien Schlüsselkomponenten, die man allein aus Sicherheitsgründen nicht so einfach extern beauftragen könne. Über viele Jahre habe man die Prozesse dieser Hochfrequenzmodule immer weiter verfeinert. Und die Ansprüche sind hoch: Militärisch genutzte Module müssen jahrzehntelang zuverlässig ihren Dienst tun.
Zum Beispiel im Großradar TRML-4D, das in der Ukraine als Teil des Flugabwehrsystems Iris-T bereits im Einsatz ist und unbekannte Flugobjekte ortet, lange bevor das menschliche Auge überhaupt etwas wahrnehmen kann. Dafür müssten die Radare auch eine gewisse Größe haben, erklärt der Leiter der Radarsparte, Markus Rothmaier. "Am Ende ist das Physik: Antennenfläche produziert Reichweite. Leistung produziert Reichweite. Leistung ist teuer. Fläche ist nicht so teuer." Zwei Tonnen wiegt das Großradar, muss auf einen eigenen Lkw montiert werden, um überhaupt mobil zu sein.
Auftragsboom und Imagewandel
Früher haben sie in Ulm solche mehrere Millionen Euro teuren Radare nur nach Auftragseingang individuell angefertigt - einige wenige pro Jahr. Mit Beginn der Invasion in die Ukraine wurde aus der Radarmanufaktur eine Serienfertigung. "Heute produzieren wir 20 Radare pro Jahr, ohne zu wissen, wer am Ende der Kunde wird", so Rothmaier. Man habe durch den Schritt die Lieferzeit von 18 auf zwölf Monate reduzieren können.
Der russische Angriffskrieg habe vieles verändert, sagt der gelernte Nachrichtentechniker, der seit 30 Jahren im Unternehmen arbeitet: "Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von mir haben über Weihnachten noch zwei Radare nach Polen zur Auslieferung gebracht, weil es ihnen einfach am Herzen lag, dass dort die Infrastruktur und die Bevölkerung geschützt werden." Der Blick von außen auf ihre Arbeit habe sich verändert. Freunde und Familie interessierten sich plötzlich für den Job im Unternehmen, erzählt Rothmaier.
"Flächendeckenden Schutz gibt es nicht"
Während andernorts in Luftverteidigung investiert wird, halten Experten Deutschland aktuell für kaum in der Lage, feindliche Raketen und Drohnen abzuwehren. "In Deutschland selbst gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Patriot-Flugabwehrsystemen. Die Bundeswehr hat jetzt noch neun, nachdem sie drei an die Ukraine abgegeben hat", sagt der Sicherheitsexperte und Journalist Thomas Wiegold. "Einen flächendeckenden Schutz Deutschlands vor Angriffen aus der Luft, wie manche sich das vorstellen, den gibt es nicht."
In Zeiten des Kalten Krieges haben nach Berechnungen der Militärhistorikerin Friederike Hartung noch rund 18.600 deutsche Soldaten den Luftraum gesichert. Nach Angaben der Bundeswehr sind es heute noch 2.600.
Verbund plant europäischen Luftschild
Künftig könnte die Zahl der Soldaten in der Luftverteidigung wieder steigen, denn Deutschland will gemeinsam mit 21 weiteren Staaten einen europäischen Luftschild aufbauen. Vier Systeme sollen dann den Luftraum in unterschiedlichen Schichten überwachen.
Zur Abwehr von Langstrecken-Raketen soll das israelische System Arrow 3 beschafft werden, das Raketen in bis zu 100 Kilometer Entfernung ausschalten kann. Darunter sichern Patriot vor Mittelstreckenraketen bis 70 Kilometer und Iris-T bis 40 Kilometer Reichweite den Luftraum. Für Drohnen und kleine Flugobjekte im Nah- und Nächstbereich soll künftig der Skyranger dienen. Das Rüstungsunternehmen Rheinmetall hat dafür kürzlich einen Auftrag in Höhe von rund 600 Millionen Euro vom Bund erhalten.
21 Länder tun sich zusammen
Sicherheitsexperte Wiegold hält den Aufbau eines europäischen Luftschilds für sinnvoll. "Es könnte alles besser werden, aber es wird noch ein paar Jahre dauern", gibt Wiegold zu bedenken. "Die European-Sky-Shield-Initiative ist im Grunde genommen eine Einkaufsgenossenschaft, wo sich 21 Länder darauf verständigt haben, gemeinsam Flugabwehrsysteme zu kaufen." Damit könne man Geld bei der Anschaffung sparen.
Der Experte kritisiert die zögerliche Bestelltaktik der beteiligten Nationen. "Das, was man in diesem Jahr bestellt hat, das hätte man eigentlich vor zwei Jahren schon bestellen müssen."
Hersteller pocht auf Planungssicherheit
Klar scheint zudem, dass das vom Bund ausgerufene Sondervermögen für den Aufbau eines nationalen Flugabwehr-Schutzschilds nicht ausreichen wird. Der Vorstandsvorsitzende des Rüstungskonzerns Hensoldt, Oliver Dörre, fordert Planungssicherheit: "Wir als Industrie investieren natürlich massiv in die Fähigkeit unsere Produktionskapazitäten zu erhöhen. Aber wir brauchen zusätzlich zu dieser Anschubfinanzierung, die das Sondervermögen gebracht hat, jetzt langfristige Planungssicherheit."
Planungssicherheit, die sich sicher auch die vielen neuen Mitarbeiter im Unternehmen wünschen. Zuletzt hat Hensoldt jedes Jahr rund 500 neue Beschäftigte eingestellt, die deutsche Technologie voranbringen sollen. Denn sie könnte einmal den entscheiden Vorteil im Kriegseinsatz bringen.