Gutachten der Wirtschaftsweisen Weg vom kurzfristigen Denken
Die Wirtschaftsweisen warnen in ihrem Jahresgutachten: In Deutschland mangele es an Investitionen, die Produktivität sinke und die alternde Gesellschaft schaffe Probleme. Der Politik empfehlen sie langfristige Maßnahmen.
Seit Monaten dreht sich die wirtschaftspolitische Diskussion fast nur um ein Thema: die mögliche Subventionierung energieintensiver Unternehmen durch einen Industrie- beziehungsweise Brückenstrompreis. Diese Worte tauchen jedoch auf keiner der mehr als 400 Seiten des neuen Jahresgutachtens der Wirtschaftsweisen auf. Die fünf Mitglieder des "Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" lenken den Blick vielmehr auf mittel- und langfristige Probleme der deutschen Wirtschaft.
Der Titel ist denn auch Programm: "Wachstumsschwäche überwinden - in die Zukunft investieren". Das soll schon zeigen: Es geht um mehr als um die Frage, ob die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um 0,4 Prozent schrumpft, beziehungsweise ob sie sich im kommenden Jahr um 1,3 Prozent erholt - so die Prognose der Bundesregierung - oder ob sie nur um 0,7 Prozent wächst, wie die Wirtschaftsweisen erwarten.
Deutschland - der "kranke Mann Europas"?
Allerdings: Diese Differenz hat dem Urteil der Ökonomen zufolge bereits mit der erwähnten Wachstumsschwäche zu tun. Denn während sich die meisten anderen Industriestaaten schneller von der Corona-Krise erholt haben, hinkt Deutschland weiter hinterher. Manche, wie der britische "Economist", sprechen schon wieder vom "kranken Mann".
Soweit würden die Wirtschaftsweisen sicher nicht gehen, doch sie legen den Finger in die Wunde: Wegen der andauernden Investitionsschwäche veraltet der Kapitalstock. Trotz höherer Beschäftigung steigt das reale Bruttoinlandsprodukt nicht - das bedeutet: die Produktivität sinkt. Und mittelfristig droht wegen der Alterung der Gesellschaft das Arbeitsvolumen auch noch abzunehmen.
Politik darf langfristigen Problemen nicht aus dem Weg gehen
All diese Hemmnisse, so schreiben die Ökonomen der Politik ins Stammbuch, "zeichnen sich bereits seit vielen Jahren ab und wurden bisher nicht ausreichend adressiert." Zwischen den Zeilen deuten die Wirtschaftsweisen die Sorge an, dass Politik zu oft im kurzfristigen Denken gefangen ist und langfristigen Problemen lieber aus dem Weg geht.
Beispiel Rente. Seit Jahren warnen Wirtschaftswissenschaftler vor zunehmenden Finanzierungsproblemen der Gesetzlichen Rentenversicherung. Auch der Sachverständigenrat hat in unterschiedlicher Besetzung vielfach darauf hingewiesen. Nun verstärken die Ökonomen ihre Warnung: Unter dem derzeit geltenden Recht drohe der Gesetzlichen Rentenversicherung "ein sinkendes Sicherungsniveau bei stark steigenden Beitragssätzen".
Bereits heute wird die Rentenversicherung jährlich mit mehr als 100 Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt gestützt. Doch allein auf den Haushalt zu hoffen, reicht nach Ansicht der Wirtschaftsweisen nicht. Sie fordern ein ganzes Bündel an Maßnahmen. So sollte das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt werden. In einem Zeitraum von 40 Jahren könnte aus der Rente mit 67 (im Jahr 2031) dann die Rente mit 69 (ab dem Jahr 2078) werden - vorausgesetzt, die Lebenserwartung steigt wie vermutet.
Intern umstritten: Umverteilung bei der Rente
Doch schon vorher sollte die Politik handeln, schließlich gehen schon bald die "Babyboomer" in Ruhestand. Das Rentenniveau einfach festzuschreiben, wie es die Bundesregierung gerade plant, hält der Sachverständigenrat daher für falsch. Das sei "keine nachhaltige Lösung, sondern verstärkt den absehbaren Anstieg der Beitragssätze noch."
Interessanterweise schlagen die Ökonomen mehrheitlich eine stärkere Umverteilung innerhalb der Rentenversicherung vor: So sollten als Teil eines größeren Reformpaketes die Renten von Besserverdienenden gekürzt werden. Damit könnten für ärmere Haushalte "soziale Härten in Folge eines sinkenden Sicherungsniveaus abgefedert werden". Hier sind sich die Mitglieder des Sachverständigenrates aber nicht einig, die Nürnberger Professorin Veronika Grimm hat dazu ein Minderheitsvotum abgegeben.
Die Wirtschaftsweisen bündeln in ihrem dicken Jahresgutachten aber auch zahlreiche andere Vorschläge für die Politik. Das Arbeitsvolumen könnte nicht nur durch einen späteren Renteneintritt ausgeweitet werden. Gefragt seien auch eine gezielte Zuwanderung, eine höhere Erwerbsarbeit von Frauen sowie Erwerbsanreize für Bürgergeld-Empfänger. In manchen Situationen könne es vorkommen, dass sich Arbeit nicht lohne, wenn dadurch sämtliche staatliche Leistungen verloren gingen. Die Ökonomen schlagen daher vor, die Leistungen langsamer abzuschmelzen, wenn Einkommen erzielt werden - selbst wenn das für den Staat vordergründig mit höheren Ausgaben verbunden ist.
Und was sagt die Politik?
Für die Opposition ist klar: "Das ganze Gutachten ist eine einzige Klatsche für die Ampel", so CDU-Fraktionsvize Jens Spahn. Deutschland brauche dringend eine wirtschaftspolitische Wende: "Strom ist viel zu teuer, deswegen muss die Stromsteuer runter. Arbeit muss sich wieder mehr lohnen, Steuern und Abgaben müssen auch runter."
Dagegen sieht sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf dem richtigen Weg. Mit den Maßnahmen zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren trage man dazu bei, die Wachstumsschwäche zu überwinden: "Wir müssen dafür sorgen, dass wir wieder auf die Spur kommen", so der Kanzler. Das Gutachten macht allerdings klar, dass für langfristiges Wachstum mehr von Nöten ist als niedrigere Strompreise oder weniger Bürokratie.