Wachstum wie in den 50ern? Kein neues Wirtschaftswunder in Sicht
In den 1950er-Jahren wuchs die deutsche Wirtschaft rasant. Der Neuaufbau nach dem Krieg machte es möglich. Heutzutage ist ein zweites Wirtschaftswunder nicht in Sicht.
Es waren vor allem die frühen Boom-Jahre der jungen Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, die die deutsche Konjunktur ankurbelten. Und die so für eine insgesamt positive Statistik sorgen: Seit 1950 ist die deutsche Wirtschaft pro Jahr im Schnitt um 3,1 Prozent gewachsen. Doch im 21. Jahrhundert legte die Wirtschaftsleistung viel verhaltener zu als in den 50 Jahren vor der Jahrtausendwende. Dadurch wachsen die Sorgen vor einem wirtschaftlichen Niedergang.
Das hat viele Gründe: immer weniger arbeitende Menschen in Deutschland, mehr geopolitische Konflikte, starker Anstieg der Preise für Energie und Lebensmittel, notwendiger und teurer Klimaschutz und das Anlocken von Unternehmen der USA mit Subventionen und Steuervergünstigungen. Trotz allem sprach Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich von den Möglichkeiten eines neuen Wirtschaftswunders. Die anstehende Dekarbonisierung erfordere ungemeine Investitionen, die die Wirtschaft ankurbeln könnten. Ein realistisches Szenario?
"Leider wird dieses Wunder ausbleiben"
Die aktuellen Zahlen sprechen eher eine andere Sprache: Die Industrieproduktion ist zuletzt um 3,4 Prozent gesunken und auch das ifo-Geschäftsklima nach sechs Anstiegen erstmals wieder gefallen. Aktuell befindet sich Deutschland in einer Rezession, wenn auch nur leicht. Die Regierung selbst erwartet ein Wirtschaftswachstum von 0,4 Prozent - weit weg von einem Wirtschaftswunder. Auch Ökonomen sind nicht davon überzeugt, dass ein neues Wirtschaftswunder, also ein Wachstum der Wirtschaft von vier bis sechs Prozent, auf absehbare Zeit realistisch ist.
"Leider wird dieses Wunder ausbleiben wegen der vielfältigen Belastungen durch dauerhaft höhere Energiepreise und Außenhandelsfriktionen, wegen der Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung, aber noch aus einem noch fundamentaleren Grund", urteilte Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts im März in einem Gastbeitrag für das "Handelsblatt". Wenn das Energiesystem mit hohen Investitionen so umgebaut werde, dass es das Gleiche leiste wie bisher, nur mit weniger CO2-Emissionen, werde das "in erheblichem Umfang" Ressourcen beanspruchen.
Diese würden dann für die Produktion anderer Güter nicht mehr zur Verfügung stehen. "Das wäre kein Problem, wenn es hinreichend viele freie Produktionskapazitäten gäbe, die diesen Umbau leisten könnten, ohne dass andere Aktivitäten wegfallen", so Fuest weiter. Das sei angesichts der Arbeitskräfteknappheit jedoch nicht der Fall.
Ein zweites Wirtschaftswunder wird die Politik nicht produzieren können, aber sie hat durchaus Möglichkeiten, dazu beizutragen, dass ein wirtschaftlicher Niedergang verhindert wird.
Neues Wirtschaftswunder ist "Unsinn"
Außerdem schaffen die Investitionen nach Angaben von Ökonom Fuest keine zusätzlichen Produktionskapazitäten, sondern ersetzen lediglich bestehende. So würden sie kaum zusätzliches Wachstumspotenzial schaffen. "Das Wirtschaftswunder fällt also aus", urteilte der ifo-Präsident. Der Wohlstand, gemessen am Konsum von Gütern und Dienstleistungen, werde sogar eher sinken. Sein Fazit lautet: "Ein zweites Wirtschaftswunder wird die Politik nicht produzieren können, aber sie hat durchaus Möglichkeiten, dazu beizutragen, dass ein wirtschaftlicher Niedergang verhindert wird."
Fuest steht mit seiner Meinung nicht alleine da: "Unrealistisch" und "Unsinn", urteilen auch andere Volkswirte. Kein entwickeltes reiches Land könne ein zweites Wirtschaftswunder im wirtschaftshistorischen Sinne erfahren. "Das muss es auch nicht", heißt es jedoch. Deutschland könne durchaus von der Dekarbonisierung und dem Klimaschutz wirtschaftlich profitieren. Doch wenn Ressourcen umgeschichtet werden, fehlten sie an anderer Stelle. Es komme jetzt darauf an, dass Deutschland seine Vorteile in der Spezialisierung nicht verspiele, sondern auch bei neuen Technologien und Entwicklungen nutze.
Aber wie gelang das Wunder denn damals? Vor allem die ersten 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren Boom-Jahre für die Konjunktur. Es war die längste Phase ungebrochener Hochkonjunktur. Die Wirtschaft war mit bis zu 12,1 Prozent pro Jahr (1955) gewachsen. Der Wiederaufbau des Landes, die Förderung der Industrie, der Marshall-Plan und die Einführung der sozialen Marktwirtschaft hatten die Wirtschaft überdurchschnittlich belebt. Ende der 1950er-Jahre mangelte es sogar an Arbeitskräften. Diesen Mangel glichen Gastarbeiter aus. 1964 waren es eine Million.
Wirtschaftswunder mit Braten, Reisen, VW Käfer
Der Boom wurde schließlich sichtbar: Maschinen, Industrie-Anlagen und Autos Made in Germany wurden in alle Welt verkauft und brachten Wohlstand. "Wohlstand für alle" war der Slogan der Zeit, geprägt vom damaligen Kanzler Ludwig Erhard - jeder, der etwas leistet, sollte sich etwas leisten können. Und das schafften viele Deutsche: Üppiges Essen, Kaffee und Butter waren gefragt. Es gab Sonntagsbraten und noch mehr.
Kühlschränke, Fernseher und Waschmaschinen zogen in die neu gebauten Häuser ein. Aus den neuen Radios tönten Schlager wie "Komm ein bisschen mit nach Italien" und fachten die Reiselust an. Doch vor allem eins wird zum Symbol dieser Zeit: der VW Käfer. Schon 1955 rollte der millionste vom Band in Wolfsburg. Soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung sorgten für neue Lebensqualität.
Drei von sieben Rezessionen in den vergangenen 20 Jahren
Doch die erste Rezession von insgesamt sieben, im Jahr 1967, beendete das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Noch schwerer wogen jedoch die Rezessionen nach der Jahrtausendwende: Mit der Finanzmarkt-Krise erlitt Deutschland 2009 ein preisbereinigtes Schrumpfen der Wirtschaft um 5,7 Prozent. Die Corona-Pandemie sorgte für die zweitschwerste Rezession der Nachkriegszeit: Die Wirtschaftsleistung brach 2020 um 3,7 Prozent ein.
Drei der sieben Phasen nachlassender Wirtschaftskraft fielen in die vergangenen 20 Jahre: 2002 und 2003 gab die Wirtschaft um 0,2 und 0,7 Prozent nach. Phasen hoher Inflation waren in den Jahren 1973/74, 1981 und 1992 jeweils auch Vorboten einer Rezession im Folgejahr.
Wirtschaft wächst verhaltener seit Jahrtausendwende
In den vergangenen zwei Dekaden ist die wirtschaftliche Entwicklung aber viel verhaltener geworden als in den Nachkriegsjahren. Zwischen 2000 und 2020 steht ein durchschnittliches Plus von 1,0 Prozent in der Bilanz. Zwischen 1950 und 1970 waren es hingegen noch durchschnittlich 6,4 Prozent pro Jahr. Bis Ende der 1960er-Jahre hatte die Industrie mehr als die Hälfte zur Bruttowertschöpfung beigetragen. Heute dominieren Dienstleistungen, die mehr als 70 Prozent zur wirtschaftlichen Entwicklung beisteuern.
Im ersten Quartal dieses Jahres ist die deutsche Wirtschaft um 0,3 Prozent geschrumpft. Der zweite Rückgang in Folge wird technische Rezession genannt. Das ist eher das Gegenteil von Wirtschaftswunder.