Deutsche Normen und Standards Von Borsten, Senkeln und Kondomen
Nur in den USA gibt es mehr Standards und Normen als in Deutschland. Was einige als typisch deutsche Regelwut belächeln, soll eigentlich der Wirtschaft nützen. So manches klingt einfach skurril.
Die Wenigsten, die morgens früh verschlafen ins Badezimmer stolpern, sind sich wohl bewusst, dass sie dabei sind, den Tag mit einer DIN-Norm im Mund zu beginnen, genauer: mit der Norm DIN EN ISO 20126. Diese auch "Büschelauszugsprüfung" genannte Norm legt fest, dass jedes einzelne Borstenbüschel einer Zahnbürste mindestens einer Kraft von 15 Newton widersteht. Damit die kleinen fiesen Plastikborsten nicht losgelöst im Mundraum verschwinden.
Deutsche Regelwut? Manchen mag eine solche Vorschrift übersorgsam erscheinen. Dabei ist die Zahnbürstenbüschelnorm nur eine von Zehntausenden Normen und Standards, die in Deutschland unser Leben regeln, von der Zahnbürste bis zum Hochhaus.
Die meisten Normen gelten international
Ein solches steht im Berliner Stadtteil Tiergarten und trägt stolz die Buchstaben DIN an der Fassade: Deutsches Institut für Normung. Der gemeinnützige Verein, der sich zum größten Teil selbst finanziert, wacht hier über 35.000 Normen. "Das meiste davon sind internationale Normen", erklärt Christoph Winterhalter vom DIN, "also Normen, die wir nutzen, um unsere deutschen Produkte auf dem Weltmarkt zu verkaufen."
Nur wenn etwa Frachtcontainer auf jedes Schiff in jedem Hafen passten und dann mit jedem beliebigen Lkw weitertransportiert werden könnten, würden Warenketten reibungslos laufen - dank Standards und Normen, so Winterhalter.
Laut Definition ist eine Norm ein "Dokument, das mit Konsens erstellt und von einer anerkannten Institution angenommen wurde und das für die allgemeine und wiederkehrende Anwendung Regeln, Leitlinien oder Merkmale für Tätigkeiten oder deren Ergebnisse festlegt". Nachzulesen in der DIN EN 45020: einer Norm, die definiert, was eine Norm ist. In der Philosophie gelten Normen als gesellschaftliche Übereinkünfte, als Abmachungen, auf die sich eine Gemeinschaft geeinigt hat, um das Zusammenleben zu vereinfachen.
Reibungslose Lieferketten
In der Welt der Wirtschaft ist das nicht anders. Standards und Normen garantieren, dass der Container aufs Schiff passt, die Schraube ins Gewinde, das Papier in den Drucker, die Kreditkarte in den Schlitz, das Kondom … genau. Und diese Passgenauigkeit bringt durchaus einen wirtschaftlichen Nutzen.
Laut Winterhalter spart die deutsche Wirtschaft jährlich etwa 17 Milliarden Euro durch die Einhaltung von Normen ein: "Stellen Sie sich vor, wenn es keine Normen gäbe. Dann müssten alle technischen Schnittstellen zwischen Firmen jedes Mal bilateral in Form von Handelsverträgen ausgehandelt werden." So aber liefe alles reibungslos - vorausgesetzt, man halte sich an die Normen.
Denn DIN-Normen sind, ebenso wie moralische Normen, keineswegs rechtsverbindlich, sondern freiwillig. Erst wenn Gesetze oder Rechtsverordnungen wie zum Beispiel EU-Richtlinien auf sie verweisen, wird aus dem "Kann" ein "Muss".
Teezubereitung auf sechs Seiten
So ist auch die wenig bekannte ISO 8601 mehr Übereinkunft als Gesetz - und doch nicht unwichtig, legt sie doch fest, dass eine Woche ein Zeitintervall von sieben Tagen ist, das an einem Montag beginnt. Sicherlich unverzichtbar, wenn man sich auf einen Termin einigen will. Oder die ISO 22774, die die Scheuerbeständigkeit von Schnürsenkeln festlegt und somit sicherstellt, dass man zu ebendiesem Termin nicht mit gerissenen Schnürbändern erscheint.
Natürlich gibt es auch Normen, die heute kein Mensch mehr braucht. Eine besondere Blüte skurriler Regelwut ist dabei vielleicht ISO 3103. Auf ganzen sechs Seiten behandelt sie die Frage, wie eine perfekte Tasse Tee zubereitet wird und geht dabei sowohl auf Größe, Material und Form der Teekanne, als auch auf Wassermenge, Ziehzeit und das korrekte Einschenken der Milch ein. Eine Norm aus dem Jahr 1980, die es heute vielleicht nicht mehr ins Normenbuch schaffen würde.
Aber auch heute noch gehen in Berlin Anträge auf neue Normen ein. Diese stellen darf jeder, egal ob Forscherin oder Normalbürger. Aber Achtung, auch für das korrekte Beantragen einer Norm gibt es eine ebensolche: DIN 820 heißt die Norm für die Norm. Wäre ja auch sonst zu einfach.