Diskussion über Erwerbstätigkeit Ist Deutschland fleißig - oder nicht?
Wirtschaftsvertreter klagen, dass in Deutschland immer weniger gearbeitet wird. Gleichzeitig ist die Zahl der Erwerbstätigen so hoch wie nie. Ein scheinbarer Widerspruch, der Diskussionen auslöst.
Die Einschätzungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) betont: "Deutschland ist ein fleißiges Land" - und verweist wie Kanzler Olaf Scholz darauf, dass so viele Menschen erwerbstätig sind wie nie zuvor. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes für den März sind es 45,7 Millionen Menschen.
Bei Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger klingt das ganz anders: Man dürfe sich von der Meldung der Rekord-Erwerbsarbeit nicht in der Illusion wiegen, "deshalb sei alles in Butter". Der hohen Zahl an Erwerbstätigen stehe nämlich ein kontinuierliches Minus bei den durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden gegenüber. Christian Sewing, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank und Chef des Bankenverbands, folgert daraus: "Wir müssen wieder mehr, sicherlich auch anders, aber auch härter arbeiten."
Widersprüchliche Berichte zu Arbeitszeit
Irritierend wirken auf den ersten Blick auch die Meldungen von Wirtschaftsforschern. So überschrieb das DIW in Berlin eine Studie zum Arbeitsmarkt vor kurzem mit folgenden Worten: "In Deutschland wird so viel gearbeitet wie nie". Dagegen meldete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit: "Noch nie außer im Corona-Jahr 2020 war die Arbeitszeit so niedrig". Beide Meldungen zogen auf dasselbe Jahr 2023.
Der Widerspruch löst sich auf, wenn man betrachtet, worauf sich die jeweiligen Zahlen beziehen. Die Arbeitszeit je erwerbstätiger Person lag dem IAB zufolge 2023 nur bei 1.342 Stunden im Jahr; dabei handelt es sich um die effektive Arbeitszeit unter Berücksichtigung von Überstunden auf der einen Seite sowie Urlaub und Krankheitstagen auf der anderen Seite. Damit ergab sich ein Minus von 0,3 Prozent im Vergleich zur entsprechenden Vorjahreszahl sowie ein Minus von 2,2 Prozent zur Vor-Corona-Zeit. Und die Schlagzeile mit der niedrigen Arbeitszeit.
Das gesamte Arbeitsvolumen in Deutschland stieg dagegen um 0,4 Prozent - so hat es das IAB ebenfalls in seiner Jahresbilanz gemeldet. Das bedeutet: Der Effekt der höheren Zahl an Erwerbstätigen übertraf den Effekt der niedrigeren individuellen Arbeitszeit. Dabei hängen die gegenläufigen Entwicklungen - mehr Erwerbstätige, weniger Stunden pro Kopf - zum Teil miteinander zusammenhängen, wie Professor Enzo Weber vom IAB erläutert.
Mehr Teilzeit - auch bei Männern
Da ist zum Beispiel die Tendenz, dass mehr Frauen im Erwerbsleben aktiv sind. Da Frauen aber nach wie vor höhere Teilzeitquoten als Männer haben, sinke unterm Strich die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf, sagt Weber im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio. Unterm Strich ergäben sich aber trotzdem zusätzliche Arbeitsstunden, "denn früher waren die Frauen ja gar nicht auf dem Arbeitsmarkt".
Allerdings gibt es eine zweite Entwicklung, die die Zahl der Arbeitsstunden mehr und mehr beeinflusst: Das zunehmende Interesse von Männern an Teilzeit. Vor Corona habe sich das kaum in der effektiven Arbeitszeit niedergeschlagen, erläutert der Ökonom Weber. Inzwischen aber würden mehr und mehr Männer den Wunsch nach Teilzeit realisieren - auch wegen des Wunsches, Familien- und Erwerbsarbeit in der Partnerschaft besser zu verteilen.
Insgesamt lag die Teilzeitquote 2023 über alle Beschäftigten gerechnet bei 39 Prozent. Das deutet schon an: Arbeitszeitwünsche werden differenzierter. Es gehe also nicht um die viel diskutierte Vier-Tage-Woche für alle, betont der IAB-Forscher, sondern um mehr Flexibilität: Um Arbeitswochen, die an persönliche Situationen angepasst werden und sich auch im Lebensverlauf ändern können. Wobei klar sein müsse, dass eine geringere Arbeitszeit Folgen für das Einkommen hat: "Wer mehr arbeitet, wird mehr verdienen, wer weniger arbeitet, wird weniger verdienen."
Ganz ähnlich sieht das Professor Clemens Fuest, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Grundsätzlich sei nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen aus persönlichen Vorlieben weniger arbeiten und damit im Gegenzug auf Einkommen und Konsum verzichten. Zugleich weist Fuest auf ein Problem für die Volkswirtschaft im Gesamten hin: Wenn Menschen weniger arbeiten und weniger verdienen, wirkt sich das auch auf Steuern und Abgaben aus. Insbesondere auf die Sozialversicherungen, die von den Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert werden.
Weniger Arbeit - mehr Produktivität?
Auch IAB-Forscher Enzo Weber nimmt die volkswirtschaftliche Dimension in den Blick: "Eine Volkswirtschaft, die weniger arbeitet, wird auch weniger Wertschöpfung erreichen." Zugleich seien Menschen, die ihre Arbeitszeit nach den eigenen Präferenzen wählen können, besonders produktiv - was der Volkswirtschaft wiederum zugute komme.
Voraussetzung dafür sind gute Rahmenbedingungen von Seiten der Politik. Vertreter der Wirtschaft und von CDU/CSU und FDP fordern finanzielle Anreize für Menschen, die mehr arbeiten wollen. "Arbeit, Leistung und Fleiß müssen sich in unserem Land mehr lohnen", sagt zum Beispiel Stephan Stracke, Vorsitzender der AG Arbeit und Soziales der Unions-Fraktion im Bundestag. Zum einen sollten die Arbeitsanreize für diejenigen verbessert werden, die Sozialleistungen beziehen. Erst kürzlich hat eine Studie im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums ergeben, dass ein höherer Verdienst in manchen Fällen durch den Verlust staatlicher Unterstützung vollständig aufgefressen wird. Zum zweiten, so der CSU-Politiker Stracke, sollten Überstunden steuerlich begünstigt werden.
Fachkräftemangel als Wachstumsbremse
Bei den Überstunden geht Arbeitsminister Heil nicht mit. Er verweist im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio darauf, dass rund die Hälfte der Überstunden gar nicht bezahlt werde: "Überstunden ordentlich bezahlen - das ist ein Beitrag zur Leistungsgerechtigkeit." Um Menschen Mehrarbeit zu ermöglichen, setzt der SPD-Politiker Heil vor allem auf bessere Rahmenbedingungen bei der Kinderbetreuung. Hier liege der Hauptgrund in "unfreiwilliger Teilzeit, vor allem von Frauen".
Egal, welches Konzept verfolgt wird - die Frage der Arbeitszeiten dürfte zunehmend zum Thema der politischen Auseinandersetzung werden. Gilt doch der Arbeitskräftemangel als eine wesentliche Wachstumsbremse und strukturelles Problem der deutschen Wirtschaft.