Politologin zu Polen "Das Gefühl, einen Befreiungsschlag zu erleben"
Zwei Monate hat die PiS den Machtwechsel in Polen hinausgezögert. Nun ist er vollzogen - nach Ansicht der Polen-Expertin Anja Hennig ein einschneidender Schritt für das Land. Im Interview erklärt sie, wie sich das Land nun vermutlich verändern wird.
tagesschau.de: Wie einschneidend ist der Machtwechsel für Polen?
Anja Hennig: Die gesamte Entwicklung seit der Wahl am 15. Oktober ist einschneidend. Eine solche Verzögerung der Machtübergabe unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Verfassung hat es noch nicht gegeben. Viele Polen haben schon am Wahlabend gefeiert, und nun wird der Machtwechsel manifest. Für Polen ist das ein besonderer, wichtiger Tag, aber auch für Europa und auch für die deutsch-polnischen Beziehungen.
Dr. Anja Hennig ist Politikwissenschaftlerin und lehrt an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.
"Medienreform ein wichtiger Schritt"
tagesschau.de: Der neue Regierungschef Donald Tusk hat am Montag gesagt, es habe immer die Hoffnung gegeben, die Dunkelheit und das Böse zu verjagen und dass diese Zeit jetzt gekommen sei. Wie will er die Spaltung des Landes überwinden?
Hennig: Man muss mit dem Begriff von der Spaltung des Landes vorsichtig sein, weil die Wahlergebnisse und die Wahlbeteiligung darüber nur bedingt Auskunft geben. Das PiS-Milieu war numerisch immer schon in der Minderheit, die Partei hat es aber aufgrund einer geringen Wahlbeteiligung geschafft, zweimal die Mehrheit zu bekommen.
Natürlich gibt es Spaltungen zwischen Stadt und Land, zwischen Älteren, weniger Gebildeten und Jüngeren, gut Ausgebildeten, zwischen denen, die verschiedene Informationskanäle nutzen, und jenen, die den staatlichen, von PiS gelenkten Sender nutzen. Hier wird die Medienreform, die die neue Regierung angekündigt hat, ein ganz wichtiger Schritt sein. Sie will die Folgen von Desinformationskampagnen angehen und es wird nicht einfach werden, eine Sprache zu finden, die in diesen unterschiedlichen Milieus trotzdem ankommt.
tagesschau.de: Ein anderes Kernprojekt der PiS-Regierung war der Umbau des Rechtssystems. Wie lange wird es dauern, das rückgängig zu machen?
Hennig: Es ist schwer, hier eine Vorhersage zu treffen. Sicher wird es lange dauern und nicht leicht werden, weil unter der PiS viele Menschen in Amt und Würden gekommen sind, die nicht so ohne Weiteres aus ihren Ämtern entfernt werden können.
"Parteien wollen unterschiedlich weit gehen"
tagesschau.de: Unter der bisherigen Regierung wurde das Abtreibungsrecht drastisch eingeschränkt. Wie viel von dem wird eine Tusk-Regierung wieder zurücknehmen?
Hennig: Die alte Regierung hat ein fast vollständiges Verbot durchgesetzt. Aber auch das vorangegangene Abtreibungsgesetz war nicht sehr liberal. Aller Voraussicht nach wird es zunächst einen Kompromiss in der neuen Koalition geben, der zu diesem Status quo ante zurückführt. Die Parteien der Koalition wollen aber unterschiedlich weit gehen und haben hier größere Differenzen. Möglicherweise wird es hier ein Referendum geben.
tagesschau.de: Das berührt ja auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Wird es hier wieder eine größere Distanz geben?
Hennig: Hier gibt es eine erstaunliche Einigkeit zwischen den drei Parteien, dass es wieder eine klare Trennung von Kirche und Staat geben soll und nicht mehr eine so enge Verbindung wie bisher zwischen den nationalkonservativen katholischen Kräften und der Politik.
Für die Kirche dürfte das eher eine Chance als ein Problem sein. Denn der deutliche Rückgang von Gottesdienstbesuchen im Land gerade unter jüngeren Menschen hat eindeutig mit der Verschränkung von Moral, Politik und der Kirche zu tun. Eine stärkere Trennung würde der Kirche und insbesondere ihren liberal-katholischen Mitgliedern zugutekommen, denn die polnische Gesellschaft ist, wenn auch nachlassend, immer noch deutlich religiöser als viele andere Gesellschaften in Europa.
"Kleinster gemeinsamer Nenner - das wird nicht so leicht"
tagesschau.de: Abgesehen vom Ziel, die PiS abzulösen und die sogenannten Reformen der PiS zurückzunehmen - wie stabil und einig ist die neue Koalition?
Hennig: Der Machtwechsel war die zentrale Motivation, der Wunsch, zu einem demokratischen Polen zurückzukehren, und es ist fraglich, ob das Bündnis ohne dieses Ziel zusammengefunden hätte. Nun geht es darum, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, und das wird nicht so leicht.
Die Linksallianz zum Beispiel ist antiklerikal und stark sozialpolitisch orientiert. Klimapolitisch eint alle das Ziel, regenerative Energien deutlich auszubauen. Die Bürgerkoalition von Tusk wiederum steht klar für die Nutzung von Atomenergie und führt hier die Politik der PiS weiter. .
"Zurück nach Europa" gilt wieder
tagesschau.de: Was wird sich für die EU durch die neue polnische Regierung ändern?
Hennig: Zunächst einmal ist diese Wahl ein Zeichen, dass nicht überall in Europa die Rechtspopulisten von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilen. 1989 gab es den Slogan von der Rückkehr Polens nach Europa, und das gilt heute - in anderer Form - wieder. Im Sinne einer vertrauten Kommunikationskultur innerhalb der EU, im Sinne einer aktiven Auseinandersetzung mit einzelnen Themen. Die PiS hat ja so gut wie keine Außenpolitik betrieben, sondern fast alles nur mit Blick auf die innenpolitische Situation getan.
In der EU hat Ungarns Premier Viktor Orban mit seiner spalterischen Politik zum Beispiel gegenüber der Ukraine nun einen Partner weniger. Tusk wird als erklärter Europäer sicher eine wichtige Rolle in der EU und auch im deutsch-polnischen und im deutsch-polnisch-französischen Verhältnis spielen. Aber Tusk ist nicht in allen Fragen liberal - zum Beispiel in der Migrationspolitik.
"Unglaubliche Zäsur"
tagesschau.de: Sie lehren an der Viadrina-Universität im grenznahen Frankfurt an der Oder. Was verspricht man sich dort vom Wandel in Polen?
Hennig: Im Lebensalltag haben die deutsch-polnischen Differenzen der vergangenen Jahre keine große Rolle gespielt. Wir wissen aber, dass die Kooperation auf regionaler Ebene in den vergangenen Jahren schwieriger geworden ist, weil es für alles ein Plazet der Zentralregierung brauchte - und die hat in vielen Dingen nicht reagiert, sodass Kooperationsprojekte zum Teil nicht realisiert werden konnten.
Hier wird es sicher ein größeres Interesse an einer Kooperation geben, um das, was ohnehin auf der grenzüberschreitenden Ebene Alltag ist, zu verbessern. Und natürlich wird es auch von Vorteil sein, dass man nicht mehr antideutsche Kampagnen ignorieren muss, sondern künftig wieder in einer Sprache kommuniziert, die der Situation angemessen ist und sich gegenseitig Respekt zollt.
tagesschau.de: In der tagesschau konnte man gestern sehen, wie der Regierungswechsel im Parlament in Kinos übertragen und bejubelt wurde. Trifft das die allgemeine Stimmung im Land?
Hennig: Die erste Nachricht, die ich am Wahlabend dazu bekommen hatte, war, dass nun ein Albtraum endet. Ich glaube, dass das gerade in den gebildeteren städtischen Kreisen eine unglaubliche Zäsur darstellt, weil es durch die vielen Einschränkungen von Freiheiten - auch in Bildung, Forschung und Lehre - das Gefühl gab, in einem unfreien Land zu leben. Jetzt gibt es das Gefühl, einen Befreiungsschlag zu erleben.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de