
Polizei-Ermittlungen Wird die Palantir-Software unangemessen genutzt?
Die umstrittene Software Palantir soll der Polizei in Deutschland eigentlich zur Abwehr schwerer Gefahren dienen, etwa von Terroranschlägen. Nach Recherchen von NDR, WDR und SZ wird sie häufig auch bei anderen Anlässen genutzt.
Die Software Palantir macht international von sich reden. Sie wird von US-Behörden genutzt, um Migranten aufzuspüren und abzuschieben. Die Software hat Zugriff auf verschiedene Datenbanken, verknüpft Informationen und wertet sie mit künstlicher Intelligenz aus. In den USA ist Palantir damit zu einem wichtigen Werkzeug im Rahmen weitreichender staatlicher Analyse und Überwachung geworden.
Auch in einigen Bundesländern in Deutschland wird eine stark abgespeckte Version von Palantir genutzt. Offizielles Ziel des Einsatzes der Software hierzulande: die Terrorabwehr und die Abwehr schwerer Gefahrenlagen.
Laut Bayerns Innenminister Joachim Herrmann geht es darum, "dass wir in bestimmten Situationen, zum Beispiel bei einem drohenden Terroranschlag, ganz unterschiedliche Dateien miteinander vernetzen, gezielt nach einem bestimmten Namen, nach einer Örtlichkeit, nach einem Stichwort durchsuchen und feststellen können, gibt es da Verbindungen." Der Gebrauch von Palantir für die bayerische Polizei sei entsprechend definiert. "Wir verwenden das für besonders schwere Straftaten", erklärt Hermann.
WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung erhielten nun erstmals Einblick in die Häufigkeit und Art der Straftaten, wofür die bayerische Polizei die Software tatsächlich nutzt. Doch dabei geht es nicht nur um die Verhinderung großer Anschläge oder die Abwehr schwerwiegender Gefahren.
Nicht nur Großlagen
Die Version, die Bayern nutzt, heißt "VeRA" und gilt als abgespeckte Version von Palantir. WDR, NDR und SZ liegt eine Liste aller Anlässe vor, zu denen die bayerische Polizei VeRA seit der Einführung des Systems Anfang September 2024 bis zum 19. Mai 2025 genutzt hat.
Viele Einträge deuten auf Großlagen hin: Eine Abfrage beispielsweise stammt vom 5. September 2024, der vermerkte Grund für die Gefahr lautet: "Leib, Leben oder Freiheit einer Person". An dem Tag ereignete sich der Anschlag in München auf das israelische Generalkonsulat, der in einem Schusswechsel zwischen einem 18-jährigen Österreicher bosnischer Abstammung und Polizisten endete.
Und auch am 20. Dezember 2024 ist ein VeRA-Einsatz vermerkt: Es ist der Tag, an dem ein saudi-arabischer Arzt in Magdeburg mit einem Auto in eine Menschenmenge raste, sechs Menschen starben, hunderte wurden verletzt. An diesem Tag nutzte das bayerische Landeskriminalamt VeRA, der vermerkte Gefahrenlage: "Bestand oder Sicherheit des Bundes oder eines Landes."
Insgesamt fast hundert Mal wurde die Software in Bayern im fraglichen Zeitraum angeworfen. Doch große Gefahrenlagen stellen nicht die Mehrzahl der Palantir-Einsätze dar. Mehr als zwanzig Mal ging es um andere Zwecke, etwa Straftaten im Bereich "Eigentums- und Vermögenswerte" oder andere Straftaten. "Das kann auch der bandenmäßige Fahrraddiebstahl sein oder Geldautomatensprenger", so Benjamin Adjei, Grünen-Politiker aus München, der die Liste der Palantir-Einsätze als Antwort einer kleinen Anfrage im Landtag erhalten hat.
"Es ist völlig klar, dass man in einer großen Gefahrenlage auf alles zurückgreift, was man hat. Natürlich auch Palantir", so Adjei. Für ihn zeigt die Liste allerdings, dass es häufig gar nicht darum geht. "Es wird auch für deutlich weniger gemeingefährliche Situationen genutzt, und das besonders oft", so Adjei.
Verknüpfung von Datenbanken möglich
Das von Palantir entwickelte System VeRA kann nicht nur polizeiliche Datenbanken verknüpfen, wie etwa das Vorgangsverwaltungssystem mit den Akten von Kriminalfällen. Das Herzstück der Software ist es, grundsätzlich auch andere bundesweite Datenbanken einzubeziehen, für die Daten zweckgebunden erhoben wurden und die normalerweise nicht für die Polizei zur Verfügung stehen. So könnten etwa Listen aus Datenbanken des Kraftfahrtbundesamtes oder das Ausländerzentralregister importiert werden und so ihren Weg ins VeRa-System finden.
Der bayerische Datenschutzbeauftragte Petri sieht das kritisch: "Das Problematische an VeRA ist, dass diese Software massenhaft Menschen in die polizeilichen Datenanalysen einbezieht, die überhaupt keinen Anlass für polizeiliche Ermittlungen gegen sie gegeben haben."
Den Einsatz für akute Terrorlagen oder vergleichbare Lagen hält er durchaus für grundrechtskonform. "Wenn allerdings die Polizei VeRA routinemäßig zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten einsetzt, dann werden massenhaft unbescholtene Menschen auch dem Risiko von polizeilichen (Folge-)Maßnahmen ausgesetzt", so seine Kritik.
Vom bayerischen Innenministerium heißt es: VeRa werde im Rahmen eng gesteckter Gesetze genutzt, die Bayern dafür erlassen habe. Im Katalog der Straftaten, bei denen VeRa eingesetzt werden könne, seien Eigentumsstraftaten abgedeckt. Eine unverhältnismäßige Ausweitung von VeRa-Nutzungen sehe man nicht, da die Software nur von speziell ausgebildeten Beamten im LKA eingesetzt werden.
In Hessen 15.000 Mal im Jahr genutzt
In Hessen wird die Software von Palantir, die dort "Hessendata" heißt, bis zu 15.000 Mal im Jahr genutzt und ist inzwischen ein Kernstück der Ermittlungsarbeit, wie die Polizei bestätigt. Dort werden die verschiedenen landeseigenen Datenbanken sowie Daten aus dem Melderegister analysiert. Der Vorteil, so präsentiert es die Hessische Polizei, liege darin, dass man schwere Kriminalität ohne Datenanalyse nicht bearbeiten könne.
Es geht also weniger um die speziellen Fähigkeiten, die Palantir mitbringt und mehr darum, dass die Datenbanken überhaupt verknüpft und abgeglichen werden können. Bodo Koch, Chief Digital Officer der hessischen Polizei, erklärt, die Software diene zur Gefahrenabwehr. Er sagt, es gehe vor allem um mehr Effizienz im Alltag der Ermittler.
Von der Hightech-Plattform, als die Palantir häufig verstanden wird, und wofür sie auch in den USA eingesetzt wird, ist das weit entfernt - aus Datenschutzgründen. Die Software kann Verbindungen zwischen Daten aufzeigen, die der Polizei bereits vorliegen. Sie kann jedoch - wie auch die Software VeRA - weder Wahrscheinlichkeiten für Straftaten berechnen, noch kann sie automatisiert etwa soziale Medien durchforsten.
Nach Recherchen von NDR, WDR, SZ hat die Software in Hessen wesentlich an Effektivität verloren, seit das Bundesverfassungsgericht 2023 die bisherige Nutzung einschränkte. Viele Daten laufen seitdem zwar weiter in die Software ein, werden jedoch vor den Ermittlern verborgen. Personen, gegen die kein erhärteter Verdacht vorliegt, werden geschwärzt und können nicht aufgerufen werden.
Die 2.000 Beamten, die mit Hessendata arbeiten, können nur solche Daten sehen, die für ihre Arbeit freigegeben sind. Wer an organisierter Kriminalität arbeitet, bekommt also beispielsweise keine Personen angezeigt, die im Bereich Terror auffällig geworden sind.
Hessische Polizei weist Kritik an Palantir zurück
Die Kritik an der Arbeit mit Palantir weist man in Hessen von sich. Ohne die Software habe man nun mal eine große Fähigkeitslücke, erklärt Bodo Koch von der hessischen Polizei. Und Palantir sei nach europaweiten Ausschreibungen beauftragt worden, da es bisher alternativlos sei.
Bisher nutzt neben Bayern und Hessen auch Nordrhein-Westfalen die Software. Und auch in Baden-Württemberg ist man sich sicher, dass es zwar wünschenswert wäre, für die polizeiliche Datenanalyse eine deutsche oder zumindest eine europäische Software nutzen zu können. Aber: "Derzeit gibt es nur eine Software auf dem Markt." Das Innenministerium in Baden-Württemberg meint damit VeRa. Auch das sächsische Innenministerium antwortete auf Anfrage von WDR, NDR und SZ, man sehe keine Alternative zum Palantir-Produkt.
Doch vor allem in einigen SPD geführten Innenministerien der Länder ist die Distanz zu Palantir zuletzt gestiegen. In dem erst kürzlich veröffentlichten Beschluss der Innenministerkonferenz findet sich ihre Kritik deutlich wieder: Zwar will man eine bundeseinheitliche Lösung für die Polizeien aller Länder einführen, der Beschluss verweist aber deutlich auf die veränderte geopolitischen Situation.
Und ohne Palantir zu nennen, scheint der Beschluss den US-Anbieter faktisch als bundeseinheitliche Lösung auszuschließen: "Einflussmöglichkeiten außereuropäischer Staaten (zum Beispiel inhaltliche Datenveränderungen, Datenausleitungen etc.)" sollen bei einer bundeseinheitlichen Datenanalysesoftware für die Polizei ausgeschlossen sein. Es solle eine "digital souveräne Lösung" angestrebt werden.
Umstrittener Palantir-Gründer
Palantir wurde von dem umstrittenen Tech-Unternehmer Peter Thiel gegründet, der häufig durch Verschwörungsideen und seine Abneigung gegen Demokratie als Staatsform auffiel und in der neuen Trump-Regierung zu neuem Einfluss gelangt ist. Offenbar befürchten die Länder, über Palantir könnten Daten in die USA abfließen.
Wie wahrscheinlich ist eine bundeseinheitliche Lösung jetzt noch? Eigene Anläufe sind bislang gescheitert: Zwar wurde schon vor einigen Jahren eine konkrete Initiative gestartet, um eine deutsche Alternative zu den Palantir-Produkten zu entwickeln. Daran beteiligt war unter anderem das Bundesinnenministerium und ein Konsortium mehrerer deutscher Firmen.
Das Projekt "NASA" hatte zum Ziel, Softwarelösungen für Sicherheitsbehörden zu entwickeln, mit denen unter anderem eine schnelle Analyse und Verknüpfung von Daten möglich wird - perspektivisch auch unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz.
Im Frühjahr 2024, nach mehreren Jahren, in denen Konzepte für unterschiedliche Behörden, darunter Polizei und Nachrichtendienste, erarbeitet wurden, kam die Initiative zum Erliegen. Ebenso erste Überlegungen einer deutsch-französischen Kooperation zur Entwicklung einer Palantir-Alternative. Die Haushaltslage, so heißt es von damals beteiligten Personen, sei dafür ausschlaggebend gewesen. Eine Anschubfinanzierung in bis zu dreistelliger Millionenhöhe sei nicht realisierbar gewesen.
Palantir wehrt sich gegen die vorgebrachte Kritik. Die Firma betonte auf Anfrage, man sammle keine Daten über oder verkaufe Daten von Bürgern. Man überwache mit seinen Produkten auch niemanden und habe sich als Unternehmen entschlossen, keine Tools zum Vorhersagen von Straftaten (predictive policing) zu entwickeln oder anzubieten. Bezüglich einer etwaigen politischen Nähe zur Trump-Regierung antwortete Palantir, man konzentriere sich darauf, langfristigen Interessen der Gesellschaft zu dienen, unabhängig von politischen Veränderungen.
Mehr zum Thema Palantir sehen sie heute um 21:45 bei Panorama im Ersten.