Anrainer einigen sich nicht Wie der Nordatlantik leer gefischt wird
Seit Jahren streiten sich die EU und weitere Anrainerstaaten darüber, wie viel im Nordatlantik gefischt werden darf. Teils wurde fast doppelt so viel gefangen, wie Experten empfehlen. Das könnte die wichtigsten Fischarten bald gefährden.
Makrele, Hering und Blauer Wittling reisen knapp unter der Meeresoberfläche jedes Jahr über Grenzen hinweg, von portugiesischen bis norwegischen Gewässern. Damit nicht jeder fischt, was und wie viel er möchte, müssen sich die Küstenstaaten jährlich in London bei der North East Atlantic Fishery Commission (NEAFC) treffen und versuchen, sich auf Fangquoten zu einigen.
Formell akzeptieren meist alle Länder die von Wissenschaftlern vorgegebenen Quoten für die maximal mögliche Fangmenge. Doch wenn es darum geht, diese Menge aufzuteilen, sind sich die Verhandler oft uneinig darüber, welchem Land welche Anteile zustehen. Am Ende weisen sich die Länder selbst jeweils viel zu hohe Quoten zu.
Keine Strafen
Berechnungen von WDR, NDR, "Süddeutscher Zeitung" und dem britischen "Guardian" zeigen, dass Fischer in den vergangenen Jahren regelmäßig mehr gefangen haben als Wissenschaftler empfohlen haben, in einigen Fällen sogar zwei Drittel bis hin zu 86 Prozent mehr als offiziell empfohlen. Für Makrelen gibt es schon seit 2009 keine Einigung mehr, für Hering seit 2013, für Blauen Wittling seit 2016. Strafen gibt es keine für Länder, die zu viel Fisch fangen. Die Umweltrechtsorganisation ClientEarth verklagte in der vergangenen Woche die EU, damit sich diese in Zukunft an die wissenschaftlichen Empfehlungen hält.
Experten kritisieren, dass Makrele, Blauer Wittling und sogar Hering bald in echter Gefahr sein dürften, sollte die systematische Überfischung so weitergehen. Wer die aktuellen Verhandlungen in London beobachtet, bekommt Zweifel an einer baldigen Einigung. Seit die Verhandlungen im Juni wieder aufgenommen wurden, verwarfen die Staaten bereits eine Einigung für 2022. Mehrere in die derzeit laufenden Verhandlungen involvierte Personen sagen, dass sie auch eine Einigung für 2023 für unrealistisch halten.
Keine Einigung absehbar
Für die Europäische Union sind die Verhandlungen derzeit besonders schwierig, weil sie seit dem Brexit einen Großteil ihrer Küstengewässer verloren hat. Die EU argumentiert deshalb, dass sie ein historisches Anrecht auf große Fangquoten habe. Großbritannien hat jedoch stets betont, dass der Brexit höhere Fangquoten für die heimischen Fischer bedeute. Die EU scheint, trotz angeblich nachhaltiger Fischerei-Politik, offenbar auch einer der Gründe zu sein, warum Makrelen, Heringe und Blaue Wittlinge seit Jahren überfischt werden.
"Die Realität ist, dass jeder nur seine eigenen nationalen Interessen verteidigt - und keiner kümmert sich um die Umwelt", sagt Javier Lopez, Kampagnendirektor der Meeres-NGO Oceana. "Wenn man versteht, wie die Verhandlungen wirklich laufen, kann man es nicht fassen", sagt Anna Heiða Ólafsdóttir, eine Meeresbiologin am "Icelandic Marine and Freshwater Research Institute". Sie ist nur eine von vielen Fachleuten, die das aktuelle System der Verhandlungen als nicht nachhaltig bezeichnen.
Enormer Einfluss der Industrie
Aktivisten kritisieren seit Jahren, dass die Verhandlungen über Fischquoten stark von der Industrie beeinflusst würden. Auf Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz stellten sowohl die Behörde NEAFC als auch das zuständige EU-Kommissariat keine Übersicht über die Verhandlungs-Teilnehmer der vergangenen fünf Jahre zur Verfügung.
Dokumente, die WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" über andere Verhandlungen zu Fischfang-Quoten im Nordost-Atlantik zwischen Großbritannien, Norwegen und der EU vorliegen, zeigen, dass etwa 40 der 75 teilnehmenden EU-Verhandler als Vertreter der Industrie dabei waren. Nur drei kamen von NGOs, rund 30 von verschiedenen Regierungen.
Die EU-Kommission antwortet auf Anfrage, sie halte sich in ihren Vorschlägen stets an die wissenschaftlichen Empfehlungen und achte darauf, wie stark Fischbestände unter Druck gerieten, um diese entsprechend zu schützen. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft schreibt, es bedauere sehr, "dass die Verhandlungen zu umfassenden Aufteilungsvereinbarungen zu wichtigen pelagischen Beständen des Nordostatlantiks bislang nicht zum Erfolg geführt haben. Die daraus resultierende Überfischung gefährdet die Bestände ebenso wie die Wirtschaftlichkeit der Fischerei."
Supermarktketten fordern politischen Druck
Seitdem keine Einigung zwischen den Ländern mehr zustande kam, zog das "Marine Stewardship Council" sein bekanntes MSC-Nachhaltigkeitssiegel für alle drei Fischarten zurück. Einige Supermarkt-Ketten fordern deshalb stärkere politische Anstrengungen, um die Fischbestände zu schützen, darunter auch Aldi Süd und Aldi Nord. Derzeit verkaufen deutsche Supermärkte auch Fisch ohne Nachhaltigkeits-Label. Viele betonen jedoch, dass sie nur dann Fisch ohne Zertifizierung ins Angebot nehmen, wenn es nicht anders geht und nachhaltige Fischerei auch politisch unterstützen würden.
Dabei können sich die Fischer von Makrele, Hering und Blauer Wittling sogar noch glücklich schätzen. Trotz der Überfischung sind die Bestände noch nicht zusammengebrochen. Sie sinken jedoch, einige Hering-Bestände sind bereits ganz konkret in Gefahr. Andere Fischbestände in europäischen Gewässern, darunter der Kabeljau, sind bereits zusammengebrochen.
Die isländische Meeresbiologin Ólafsdóttir war in der Vergangenheit immer wieder als Beraterin der isländischen Delegation bei den Verhandlungen dabei. Sie ist sich sicher, dass es ohne Reformen nicht geht. "Es wird der Tag kommen, an dem die Überfischung Folgen haben wird", sagt Ólafsdóttir. Bislang seien die Fischschwärme noch jedes Jahr wiedergekommen, sagt sie, "doch das heißt nicht, dass wir ewig so viel Glück haben werden."
Diese Recherche wurde auch durch ein Recherchestipendium von journalismfund.eu finanziert.