Gefährdete in Afghanistan Hat die Bundesregierung ihr Versprechen gebrochen?
14 statt 12.000 Menschen - das ist die Bilanz rund ein Jahr nach Beginn des Bundesaufnahmeprogramms für gefährdete Afghanen. Hilfsorganisationen berichten von chaotischen Zuständen und einer überforderten deutschen Bürokratie.
Maryam Mozaffari war eine von Tausenden Afghaninnen und Afghanen, die im August 2021 verzweifelt versuchten, Kabul zu verlassen. Die Taliban rückten in die Hauptstadt vor. Auf dem Flughafen starteten die letzten Maschinen in die Freiheit. Sie schaffte es nicht.
Vor der Herrschaft der islamistischen Taliban hat Mozzafari als Anwältin gearbeitet und Frauen, die häusliche Gewalt erlebten, vor Gericht vertreten. Deshalb lebt sie nun in ständiger Angst vor den Taliban, wird mit dem Tod bedroht. Seit zwei Jahren versteckt sie sich in wechselnden Wohnungen über das Land verteilt.
"Es gibt keinen einzigen Tag mehr in meinem Leben, an dem ich mich sicher fühle. Jede Minute muss ich damit rechnen, dass ich verhaftet werde. Einige meiner Kolleginnen haben sie schon mitgenommen", berichtet Mozzafari im Interview mit dem ARD-Magazin Monitor.
Versprechen der Außenministerin
Doch noch hat sie Hoffnung. Sie möchte an ein Versprechen glauben, das die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ihr und vielen anderen gefährdeten Afghanen nach der Machtübernahme der Taliban gegeben hat: "Sie sind nicht vergessen. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, alle in Sicherheit zu bringen."
Im Oktober 2022 wurde deshalb das Bundesaufnahmeprogramm mit dem Ziel ins Leben gerufen, jeden Monat 1.000 besonders gefährdete Afghanen wie Maryam Mozaffari nach Deutschland zu holen. Konkret richtet sich das Programm an "afghanische Staatsangehörige in Afghanistan, die sich durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit (...) besonders exponiert haben und deshalb individuell gefährdet sind."
Im ersten Jahr hätten somit 12.000 Menschen nach Deutschland kommen sollen. Auf Anfrage von MONITOR schrieb das Bundesinnenministerium, dass tatsächlich bislang 14 Afghanen über das Programm eingereist seien.
Das Ministerium erklärte die Differenz damit, dass sich die Anzahl der Aufnahmezusagen nach den "zur Auswahl stehenden" Personen richte. Allerdings könnten "nicht ausgeschöpfte Kontingente auf den Folgemonat übertragen werden". Nach 18 Monaten wolle man den Erfolg des Programms überprüfen.
Mehrstufiges Verfahren
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger kritisiert die Regierung aber schon jetzt scharf: "Zum einen müsste erst mal der politische Wille dafür tatsächlich da sein, dass man Menschen aus Afghanistan aufnehmen möchte. Ich sehe zwar nette Worte von Politikerinnen, aber ich sehe kein politisches Handeln, kein tatsächliches Handeln im politischen Bereich." Außerdem sei das Programm zu bürokratisch und zu intransparent.
Um über das Programm nach Deutschland einreisen zu können, müssen gefährdete Afghaninnen und Afghanen ein mehrstufiges Verfahren durchlaufen. Zunächst stellen sie eine Hilfeanfrage bei einer von rund 70 ausgewählten deutschen Hilfsorganisationen. Direkt bei einer staatlichen Stelle bewerben können sie sich nicht.
Der Verein "Kabul Luftbrücke" ist eine dieser ausgewählten Hilfsorganisationen. Alleine bei ihnen haben sich in der ersten Woche nach dem Start des Programms rund 40.000 Menschen gemeldet. "Wir mussten den Menschen dann auch kommunizieren, dass wir es nicht schaffen werden, ihre Fälle alle zu bearbeiten. Wir können die Bundesregierung nicht ersetzen in dieser Hinsicht. Da muss der Bund selber Ressourcen schaffen", berichtet Therese Herrmann über die Überlastung der Hilfsorganisation.
Verschiedene staatliche Stellen, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Innenministerium, das Auswärtige Amt und auch deutsche Sicherheitsbehörden ermitteln dann in einem langwierigen mehrstufigen Prozess, ob sich Personen für das Programm eignen. Vorgesehen sind zahlreiche Prüfschritte, Daten müssen zum Teil händisch eingegeben und zwischen den unterschiedlichen Stellen ausgetauscht werden.
Vorsprechen nur bei der Botschaft in Pakistan
Erst nach Überwindung dieser bürokratischen Hürden treffen gefährdete Afghanen das erste Mal einen Mitarbeiter deutscher Behörden. Dafür müssen sie allerdings in die pakistanische Hauptstadt Islamabad reisen, um im dortigen Konsulat der Bundesrepublik vorzusprechen. In Afghanistan selbst können Anträge nicht bearbeitet werden, da die deutsche Botschaft in Kabul den Dienstbetrieb eingestellt hat.
Doch die Situation für Afghanen im Nachbarland Pakistan ist dramatisch: Mehr als einer Million Afghanen droht derzeit eine Abschiebung, in den vergangenen Tagen gingen lokale Behörden offenbar besonders rigoros vor. Die Abschiebung droht auch jenen, die über das Bundesaufnahmeprogramm nach Deutschland kommen sollen. Denn oftmals warten Gefährdete auf Termine in der deutschen Botschaft so lange, dass ihr pakistanisches Visum abläuft.
Angesichts der drohenden Massenabschiebungen zeigte sich auch das Auswärtige Amt besorgt. Man sei im Zusammenhang mit Afghaninnen und Afghanen, die von der Bundesregierung bei ihrer Ausreise aus Pakistan unterstützt würden, in engem Austausch mit den pakistanischen Behörden, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts in dieser Woche. Diese hätten erklärt, dass Menschen, die über das sogenannte Bundesaufnahmeprogramm aus Pakistan nach Deutschland kommen sollten, von Ausweisungen ausgenommen sein würden. Doch auch diesen Menschen droht nun offenbar die Abschiebung.
Ob Maryam Mozaffari jemals Afghanistan in Richtung Deutschland verlassen kann, ist heute fraglicher als je zuvor. Sie muss sich auf unbestimmte Zeit weiter verstecken. In der Hoffnung, nicht von den Taliban entdeckt zu werden - trotz des großen Versprechens der Bundesregierung.
Mehr zu diesem und weiteren Themen können Sie in der Sendung Monitor um 21:45 Uhr im Ersten sehen.