Teilhabegesetz für Behinderte Mehr Selbstbestimmung oder Spargesetz?
Das Bundeskabinett hat das Bundesteilhabegesetz auf den Weg gebracht. Es soll Menschen mit Behinderung besserstellen, etwa bei der Wahl des Wohnsitzes. Doch Betroffene kritisieren das Paket als reine Sparmaßnahme - und protestieren in Berlin.
Hinter Gittern zu sitzen - das ist für Nancy Poser nichts Neues. Als Richterin gehört es zum Job, ins Gefängnis zu gehen und ab und an selbst Menschen hinter Gitter zu bringen. Doch jetzt sitzt die resolute Frau in ihrem Rollstuhl in einem Käfig vor dem Berliner Hauptbahnhof. Sie protestiert gegen das geplante Gesetz der Regierung, das Behinderten ein selbstbestimmteres Leben ermöglichen soll - etwa bei der Frage, wo sie wohnen.
Poser sieht das jedoch anders - sie spricht von einer einzigen Mogelpackung. "Wir befürchten, dass es durch bestimmte Regelungen in diesem Gesetz vielen Menschen sehr schwer gemacht werden wird, beispielsweise aus einem Heim auszuziehen. Das hat nichts mit Selbstbestimmung, Individualität oder Teilhabe zu tun und deshalb sind wir heute hier."
Nahles lobt Gesetz als echten Fortschritt
Etwa 20 Menschen im Rollstuhl protestieren gegen ein Gesetz, das die zuständige Sozialministerin einige Hundert Meter Luftlinie entfernt in höchsten Tönen lobt. Andrea Nahles spricht von einem Meilenstein. Beispiel Wohnen: Behinderte bekommen künftig Geld - unabhängig davon, ob sie allein oder in einem Heim wohnen. Ein echter Fortschritt für die SPD-Politikerin. "Denn bisher konnten viele Menschen ihren Lebensmittelpunkt nicht frei wählen, weil ihre Leistungen abhängig waren von der Wohnform. Wir wollen, dass Menschen aber wählen können, wo und wie sie leben wollen. Sei es zu Hause, in einer Wohngruppe oder in einem Heim."
Außerdem, verspricht Nahles, soll es für Behinderte einfacher werden, einen Job zu finden. Arbeitgeber können bis zu drei Viertel des Lohns vom Staat bekommen, wenn sie einen behinderten Mitarbeiter einstellen. Fast 40.000 Firmen in Deutschland tun das derzeit jedoch nicht und zahlen lieber ein Strafe. "Das ist aus meiner Sicht ein unhaltbarer Zustand und es sind sehr viele Menschen in Schwerbehindertenwerkstätten. Das soll aber nicht die einzige Option sein, die sie haben."
Ein normaler Job ist die Ausnahme
Doch derzeit ist das Alltag - einen normalen Job zu finden ist schwierig. Und Karrieren wie die von Nancy Poser sind die große Ausnahme. Viele nennen sie eine Überfliegerin. Abitur mit der Traumnote 1,0, Prädikatsexamen im Jurastudium, jetzt ist sie Richterin am Amtsgericht. Trotz ihrer Muskelschwäche führt sie ein selbstbestimmtes Leben, unterstützt von Assistenten.
Doch mit dem neuen Gesetz müssten sich künftig mehr Menschen die Hilfe teilen, fürchtet Poser: "Das heißt, mehrere Behinderte bilden Zwangsgemeinschaften, die dann nur noch einen Assistenten für bestimmte Dinge bekommen. Man wird so auch dazu gezwungen, mit den Assistenten, die man sich nicht selber ausgesucht hat, beispielsweise auf die Toilette zu gehen. Das ist ja die engste Intimsphäre."
Nahles: Niemand soll schlechter gestellt werden
Worauf genau sie diese Sorge stützt, ist nicht ganz klar. Denn tatsächlich verankert das Teilhabegesetz, dass Behinderte künftig deutlich mehr vom eigenen Vermögen und vom Einkommen behalten können. Und Nahles verspricht, dass niemand schlechtergestellt wird: "Ich habe natürlich Verständnis, dass viele auch Wünsche haben, die darüber hinausgehen. Das ist eine existenzielle Sache und dass man sich da noch mehr wünschen kann, das kann ich gut verstehen. Aber wir machen hier wirklich einen wesentlichen Schritt nach vorn."
Doch der Schritt geht, so auch die Kritik der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, nicht weit genug nach vorn. Verena Bentele will, dass der Gesetzentwurf nachgebessert wird. Etwas, das auch Richterin Nancy Poser fordert. Und notfalls will sie dafür noch einmal hinter Gitter gehen.