Ein Schüler hält im Unterricht ein Handy in den Händen. (Quelle: dpa/Jens Kalaene)

Berlin Interview zu Misständen an Berliner Schulen: "Jugendgewalt ist wieder aktueller geworden"

Stand: 05.06.2025 17:22 Uhr

Aggressive Schüler in Friedenau, Berichte über Mobbing gegen einen Lehrer in Moabit: Nimmt die Gewalt an Schulen zu? Albrecht Lüter, Experte für Gewaltprävention, betont im Interview die Wichtigkeit einer "Kultur des Hinsehens".

rbb|24: Attacken - verbal oder körperlich - gegen Schüler und auch Lehrer, so der Eindruck, traten in den vergangenen Jahren häufiger auf. Stimmt das?

Albrecht Lüter: Befragungsstudien von Berufsverbänden weisen darauf hin, dass Bedrohungen von Lehrkräften in der subjektiven Wahrnehmung zuletzt deutlich an Bedeutung gewonnen haben. Auch aus der Polizeistatistik ergeben sich entsprechende Hinweise. Diese Einschätzungen passen in das Bild aus anderen Berufsgruppen, die mit einer gewissen Amtsautorität in der Öffentlichkeit stehen: Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienste, Kliniken, auch Kommunalpolitik.

Solche Erfahrungen können die berufliche Zufriedenheit in wirklich zentralen gesellschaftlichen Bereichen und auch die individuelle Gesundheit beeinträchtigen und sollten insofern wirklich ernst genommen werden.
 
Im Blick auf den schulischen Bereich lässt sich außerdem festhalten, dass in den letzten Jahren - insbesondere im Anschluss an die Pandemie – vermehrt Konflikte und Gewaltvorfälle angezeigt werden. Jugendgewalt – in einem weiten Sinn verstanden – ist wieder aktueller geworden.
 
Bevor wir aber mit dem Finger auf Schülerinnen und Schüler zeigen, sollte man im Kopf behalten, dass nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Schülerinnen und Schüler Opfer von Übergriffen werden. Es gibt auch Schüler, die sich an Schulen nicht gesehen oder diskriminiert fühlen, auch von Lehrkräften. Konflikte und Übergriffe betreffen also meistens nicht nur eine Gruppe, sondern sind eine "systemische" Frage. Es geht dabei um die Schulkultur als Ganzes. Das zeigt, dass Schule eben nicht nur ein Lernort, sondern ein Lebensort ist. Ein gutes Zusammenleben ist eine Voraussetzung für ein gutes Lernklima.

Wie sind da nach Ihren Erfahrungen und nach ihren Auswertungen die Zahlen?

Verlässliche Studien zum sogenannten Dunkelfeld von Übergriffen und Gewalt an Schulen sind nach meiner Wahrnehmung leider weiterhin Mangelware, insbesondere wenn es um Zahlen und Statistik geht. Sie wurden in Berlin zuletzt vor vielen Jahren umgesetzt und finden sich in aktuell eher in anderen Bundesländern.
 
Bis vor einigen Jahren hat die Bildungsverwaltung Daten zu Gewalt und Notfällen an Schulen aus ihrem Meldeverfahren veröffentlicht. Die entsprechenden Meldungen werden aber seit einiger Zeit leider nicht mehr zentral ausgewertet und veröffentlicht. Die polizeilichen Zahlen zum sogenannten "Hellfeld", also den entsprechend angezeigten Fällen, steigen seit einigen Jahren allerdings merklich an, sowohl im Blick auf Schulen wie auch insgesamt zu Jugendgewalt. Daraus lässt sich schon ein bestehender Handlungsbedarf im Blick auf schulische Prävention ableiten. Wie gesagt, das sehen auch viele Lehr- und Fachkräfte so.
 
In dem Moabiter Fall geht es aber ja nicht nur allgemein um Übergriffe, sondern um queerfeindliches Mobbing [sueddeutsche.de]. Berlin ist zwar die Regenbogen-Hauptstadt mit relativ vielen Möglichkeiten für Queers, aktuell werden aber von Jahr zu Jahr rasant steigende Fallzahlen von queerfeindlichen Übergriffen verzeichnet. Deshalb entwickelt Berlin derzeit eine Landesstrategie für queere Sicherheit. Der aktuelle Bericht des betroffenen Lehrers passt also exakt in die Gesamtsituation.

Warum passt das? Was ist die Erklärung dafür?

Auf der Suche nach Erklärungen sollte man auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in den Blick nehmen. Ich denke an Nachwirkungen der Corona-Pandemie, an veränderte Formen der Mediennutzung, aber auch an multiple Krisen in dichter Folge, die sich grad auf Eltern und Familien in schwierigen Lebenssituation sehr handgreiflich und direkt auswirken können und ihre Belastungen nochmal erhöhen. Kinderarmut ist auch in Berlin ein spürbares Problem.
 
Solche großen Fragen sind aber sicherlich nicht die alleinige Erklärung und auch schwer zu beeinflussen. Man sollte daher ganz konkret die jeweilige Schule und die Verfahren im Bildungswesen in den Blick nehmen. Gibt es klare Vereinbarungen zum Umgang miteinander? Werden die auch eingehalten und durchgesetzt? Werden strittige Themen und Probleme in angemessener Form aufgegriffen und bearbeitet oder eher ausgesessen? Wie gesagt: Es geht hier zunächst mal um das jeweilige Schulklima, um Präventions- und Interventionsstrukturen und eine Kultur des Hinsehens. Es gibt ja durchaus auch positive Beispiele von Schulen, an denen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt auch gelebt und ausgedrückt werden kann.

Archivbild: Friedrich-Bergius-Schule, Perelsplatz, Friedenau, in Berlin Tempelhof-Schoeneberg. (Quelle: dpa/Joko)
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"Immer häufiger!", "Immer öfter!" oder "Es wird nichts unternommen!" - das sind Vorwürfe, die auch im gesellschaftlichen Erzählen, im Austausch bei Lehrern und Eltern erhoben werden. Wird es schlimmer, also brutaler - verbal und körperlich?

Pauschale Thesen dieser Art sehe ich aus langjähriger Erfahrung etwas skeptisch. Sie drücken Sorgen und Befürchtungen aus, die Wirklichkeit ist aber oft komplizierter und vielschichtiger. Wir profitieren beispielsweise noch heute von starken Rückgängen der Jugendgewalt vor nicht allzu langer Zeit. Wir haben auch gesellschaftliche Öffnungsprozesse für sexuelle Vielfalt erlebt. Auch verletzungsrelevante Fälle an Schulen, also brutale körperliche Auseinandersetzungen, sind laut glaubwürdiger Meldesysteme weniger geworden - anders als, wie eben in diesem aktuellen Fall in Moabit, psychische und verbale Gewalt, Mobbing und aktuell Queerfeindlichkeit. Ich will damit gar nichts kleinreden und relativieren, eher den Fokus scharf stellen auf vorrangige Herausforderungen.

Aktuelle Polizei-Zahlen von April zählen auf, dass Diebstähle, Nötigungen, Raub, Hausfriedensbruch oder Rauschdelikte zurückgegangen sind. Straftaten gegenüber Lehrkräften aber hätten sich seit 2020 verdoppelt: von 164 auf 329 (2024).

Ja, diese Zahlen, die auch im Rahmen einer Anfrage im Abgeordnetenhaus veröffentlicht wurden, sind wirklich bemerkenswert. Polizeistatistiken können auch wichtige Hinweise geben, aber nicht alle offenen Fragen klären. Die Statistiken werden beispielsweise vom Anzeige- und Meldeverhalten beeinflusst. Darin können sich insofern auch andere Faktoren ausdrücken: Überlastung von Lehrkräften, Überforderungen von Neueinsteigern im Umgang mit Konflikten und vieles mehr.

In dem nun öffentlich diskutierten Fall von mutmaßlichem Mobbing, Bedrohung und übler Nachrede gegen einen queeren Lehrer in Moabit hat sich der Lehrer an die Medien gewandt. Zuerst berichtete die "Süddeutsche Zeitung". Ist das gut so? Oder ist die Darstellung solch eines konkreten Konflikts an einer Schule der falsche Weg?

Betroffene haben sicherlich sehr gute Gründe, an die Öffentlichkeit zu gehen und sich an die Medien zu wenden. Aber: Klar muss auch sein, dass das eher das letzte Mittel ist. Grundsätzlich sollte das ja gar nicht erforderlich sein. Die einzelnen Schulen und die Einrichtungen des Bildungswesens sollten ja in der Lage sein, Konflikte mit eigenen Mitteln lösen. Dazu gibt es auch professionelle Standards und Handlungsvorgaben. Akute Mobbing- und Konfliktfälle sollten schulische Gremien - beispielsweise die Schulleitung oder die Krisenteams, auch externe Akteure aus den SIBUZ* - ernst nehmen, den Betroffenen unmissverständlich Unterstützung signalisieren und anbieten und die Verursachenden in die Verantwortung nehmen. Der aktuelle Vorfall steigt deutlich, dass sich da keine Schule einfach auf der sicheren Seite sehen kann.

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Was genau hätte in so einem Fall anders oder besser laufen können oder müssen?
 
Ich möchte da keine schlauen Hinweise geben, nicht von der Seitenlinie, nicht aus der Ferne. Wichtig ist es natürlich für jede Schule, Ressourcen zu haben, um überhaupt auf Konflikte reagieren zu können. Es braucht dafür Personal – und zwar Lehrkräfte und andere Professionen, etwa Schulsozialarbeit. Auch sollte jede Schule Konzepte zur Prävention haben, sollte Konflikt- und Gewaltprävention ernst nehmen und Maßnahmen dafür auch umsetzen.
 
Für akute Fälle gibt es – wie gesagt – eigentlich Interventions- und Handlungsregeln, an denen man sich orientieren kann, die dann aber natürlich auch eingehalten und beachtet werden müssen. Das fällt im schulischen Alltag womöglich nicht immer leicht. Grundsätzlich gilt aber: Über den Einzelfall hinaus sind aufmerksames Hinsehen und gezieltes Reagieren wichtig, damit keine Gewöhnungseffekte eintreten und das Schulklima nicht auf die schiefe Bahn rutscht.

* SIBUZ - das sind die Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentren. Jeder Bezirk hat solch ein SIBUZ. Die Mitarbeiter dieser Zentren stehen Schülerinnen und Schülern, Eltern und dem Schulpersonal mit einem Team von Fachkräften der Schulpsychologie und der Pädagogik zur Verfügung. Sie beraten und unterstützen zu Fragen rund um das Thema "Lernen und Verhalten".

Das Interview führte Stefan Ruwoldt, rbb|24