
Berlin Ausstellung "Strange!" in der Sammlung Scharf-Gerstenberg: Die Entdeckung der Seltsamkeit
Sonderbar, merkwürdig, andersartig? Die Ausstellung "Strange!" zeigt 60 surrealistisch anmutende Werke aus dem Bestand der Nationalgalerie. Dabei wird vor allem unbekannte Malerei aus der ehemaligen DDR präsentiert. Von Julia Sie-Yong Fischer
Eine Museumsausstellung muss nicht zwangsläufig aus einer langwierigen, kuratorischen Auseinandersetzung mit Kunstwerken entstehen. Manchmal ergibt sie sich quasi von allein, indem der eigene Bestand mit einer etwas anderen Perspektive neu betrachtet wird. Nach diesem Prinzip der "Accrochage" (Bestandshängung) ist Kuratorin Kyllikki Zacharias vorgegangen, als sie Bilder aus dem "Keller" der Nationalgalerie für eine neue Ausstellung ausgewählt hat.
Die Freude, unbekannte Schätze gefunden zu haben, ist ihr deutlich anzumerken, wenn sie über Maler wie Günter Richter spricht, der ihr vorher unbekannt war. Und so hört sich der Ausruf des Ausstellungstitels, "Strange!", auch durchaus positiv überrascht an. Wie eine unmittelbare Reaktion auf das Gesehene: merkwürdig, aber gut.

Entrückte Stadtfrauen
Die Ausstellung zeigt: Auch Porträts, die zunächst realistisch erscheinen, können eine gewisse Andersartigkeit ausstrahlen.
Das mit Öl gemalte "Bildnis Annette" (1970/71) von Wolfgang Peuker (1945-2001) etwa zeigt seine erste Ehefrau. Das blonde Haar ist fluffig frisiert, sie trägt glänzend seidige Kleidung und hat eine detailliert ausgearbeitete Ledertasche in der Hand. Im Hintergrund lenkt eine dynamische Stadtszene mit Autos, Passant:innen (unter ihnen ein Volkspolizist) und modernen Hausfassaden ab. Der Blick der Porträtierten richtet sich direkt an die Betrachter:in, bleibt dabei aber glasig und der Ausdruck schwer lesbar.
Daneben hängt ein angeblicher Publikumsmagnet der letzten Kunstausstellung der DDR 1987/88 in Dresden: Diesmal Peukers zweite Ehefrau, abgekürzt "A.P. geboren 1949" (1986). Deren Geburtstag fällt auf das DDR-Gründungsjahr. In deutlich düsteren Farben steht die Frau wie ein schwarzer Block auf der Ostseite des Brandenburger Tors. Völlig schmucklos hebt sich ihr Antlitz als hellgelblich-grüne Fläche von dem Hintergrund ab. Sie schaut abwesend rechts aus dem Bild heraus. Durch die Verkürzung des Halses wirkt sie gedrungen.

Surrealismus-Ausstellung "Strange!" Sammlung Scharf-Gerstenberg Berlin
Beide Porträts sind Teil einer Dreier-Hängung mit "Bildnis Fräulein Lechner" (1972) von Volker Stelzmann (*1940). Eine angeblich unverheiratete Frau mit Bobfrisur raucht mit halb verschränkten Armen auf einer Terrasse. Hinter ihr ist eine Stadtkulisse mit Bergen zu sehen. Trotz naturalistischen Proportionen wirkt das Gesicht der Frau überzeichnet. In ihrem schweifenden Blick liegen Abgeklärtheit und Ernüchterung.
Alle drei Gemälde nebeneinander lassen die Frau symptomatisch zu entrückten Stadtwesen werden, die abseits ihres Umfelds einen neuen, leeren und politischen Gefühlsraum eröffnen. Etwas Seltsames liegt in der Luft.

Skurrile Stilleben und zerrüttete Familien
Nicht nur Menschenbildnisse lassen sich in "Strange!" finden. Ein Bereich widmet sich nur dem Stillleben. Hier werden Gemälde gezeigt, die sich der bekannten Gattung auf fast unmerkliche Weise entziehen. So ist das "Stilleben mit Tomatenglas" (1966) von Peter Graf (*1937) eine Komposition, die zwar das Benannte identifizieren lässt, es aber fast beliebig mit unerwarteten Elementen kombiniert. So liegt eine tote Biene auf einem verschlossenen Becher Tasse; eine kleine Birne steht verloren neben einem Fisch, der wie eine schlappe Möhre auf dem Tisch liegt. Die symbolische Aufladung eines Vanitas-Stillleben mit existenziellen Fragen nach der Vergänglichkeit findet hier, wenn überhaupt, eher seltsam humoristisch statt.
Auch leicht irritierend: Die komplette Abwesenheit des Stillebens in "Senza natura morta 1" (1961) des Italieniers Domenico Gnoli (1933-70). Allein der mit einem gemusterten Tischtuch bedeckte Tisch ist hier dargestellt.
Konkrete psychologische Inhalte lassen sich sehr klar aus "Kind und Eltern" (1976) von Heidrun Hegewald (*1936) herauslesen: In einem dunklen Raum stehen Vater, Mutter und Kind in einem Dreieck abgewandt voneinander. Während sich die Eltern verschämt wegdrehen, steht das Kind traurig ausdruckslos im gleißendem Licht einer geöffneten Tür. Auch wenn sich hier eine eher moralische Aussage über Trennungen finden lässt, bewegt die Aufstellung der entfremdeten Familie. Das Seltsame hierbei lässt sich in der didaktischen Darstellung des unangenehmen Scheiterns finden: Statt Surrealismus schon beinahe ein Hyperrealismus.
Spielerisch und unaufgeregt
Das künstlerische Abarbeiten am Realismus zieht sich so wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Wenn einige durchaus politische Inhalte mit Kriegselementen und Freiheitssymbolen vermitteln, sind andere nur Ausdruck einer eigenen (de-)konstruierten Wahrnehmung. Kuratorin Zacharias sieht die Schau mehr als Möglichkeit die "eigenen sensorischen Instrumentarien" zu nutzen und den ein oder anderen Bezug zwischen den Werken als Betrachter:in selbst herzustellen.

Surrealismus-Ausstellung "Strange!" Sammlung Scharf-Gerstenberg Berlin
Erstaunlich ist dabei, dass mehr als zwei Drittel der insgesamt 40 überwiegend männlichen Künstler wirklich nur zufälligerweise aus dem Osten sind. Ohne dass sie durch einen thematischen DDR-Fokus ausgewählt wurden. Und neben den üblichen Stars wie Wolfgang Mattheuer und Sighard Gille werden die wenigsten in institutionellen Ausstellungen gezeigt. Einige von ihnen leben noch und sollen jetzt im Nachhinein von dem Museum kontaktiert werden.
"Strange!" ist eine Ausstellung, die sich eher wie eine intuitiv zusammengestellte Präsentation anfühlt. Aber dabei ein angenehm unaufgeregtes Angebot an jene Besucher:innen macht, die Lust haben sich selbst ein Bild von der durchaus interessanten Kunst zu machen.
"STRANGE! Surrealismen 1950–1990 aus den Sammlungen der Nationalgalerie" vom 30.05.2025 bis 16.11.2025 in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, 14059 Berlin, geöffnet Mittwoch bis Sonntag von 11-18 Uhr Parallel dazu gibt ein eintrittsfreies Kinoprogramm "Surreales Cinema" im eigenen Kinosaal.
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