Prozess um eingestürztes Stadtarchiv Kölns Narbe und die Schuldfrage
Zwei Menschen starben, Jahrhunderte alte Bücher und Schriften wurden unter den Trümmern begraben: Fast neun Jahre nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs will das Landgericht in einem Prozess klären, wer die Schuld für die Katastrophe trägt.
Für Nadine Thiel war der 3. März 2009 zunächst ein ganz normaler sonniger Dienstag. Die Restauratorin arbeitet in ihrer Werkstatt im Stadtarchiv, als plötzlich der Haustechniker auftaucht und alle auffordert, das Haus zu verlassen. Große Ängste habe sie beim Rausrennen nicht gehabt, erzählt Nadine Thiel heute mit Blick auf die Unglücksstelle: "Dass es einstürzt, war nicht der Gedanke. Dann habe ich mich umgedreht und sah den riesengroßen Magazinturm einstürzen und eine riesengroße Staubwolke."
Knapp neun Jahre sind vergangen, seit das bedeutende Historische Archiv innerhalb von Sekunden einstürzte und zwei benachbarte Wohnhäuser mitriss. Zwei Menschen sterben: der 17-jährige Bäckerlehrling Kevin K. und der 24-jährige Designstudent Kahlil G. Die Trümmer begraben auch Millionen von Urkunden, Karten, Fotos unter sich. Jetzt beginnt am Kölner Landgericht der Strafprozess.
Jahrelanger Streit
Dass der Einsturz des Stadtarchivs mit dem Bau einer neuen Nord-Süd-U-Bahn zusammenhängt, scheint klar. Über die genaue Ursache jedoch wird gestritten. Gestützt auf ein Gutachten wirft die Staatsanwaltschaft Mitarbeitern von beteiligten Baufirmen sowie der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) fahrlässige Tötung und Baugefährdung vor. Bauarbeiter sollen beim Ausschachten des Tunnels auf ein Hindernis gestoßen sein, das sie nicht beseitigen konnten.
Die Arbeiten gingen weiter, ohne die Bauleitung zu informieren. Laut Anklage entstand in einer unterirdischen Wand ein Loch, durch das am Unglückstag große Mengen Sand, Kies und Wasser in die Baugrube eindrangen. So soll ein Hohlraum unter dem Stadtarchiv entstanden sein, dem dadurch buchstäblich der Boden entzogen worden sei. Neben einem Bauarbeiter sitzen vier weitere Personen auf der Anklagebank, die laut Staatsanwaltschaft die Arbeiten nicht mit der gebotenen Sorgfalt kontrolliert haben und den Verstoß beim Ausbaggern bemerkt haben.
Am 3. März 2009 stürzte in Köln das Gebäude des Stadtarchivs zusammen mit zwei Nachbarhäusern in eine 25 Meter tiefe Baugrube. Vor dem Gebäude wurde an einer neuen U-Bahn-Linie gebaut.
Fehler bei Bauausführung oder Planung?
Die beteiligten Baufirmen, die in einer Arbeitsgemeinschaft organisiert sind, weisen die Vorwürfe zurück. Ein Sprecher betont: "Die komplexe Frage, auf welchem Wege innerhalb weniger Minuten über 5000 Kubikmeter Erde in die Baugrube fließen konnten, ist bislang nicht geklärt worden." Die Baufirmen führten in den vergangenen Jahren wiederholt eine andere These ins Feld: Demnach soll ein sogenannter hydraulischer Grundbruch das Unglück verursacht haben. Dabei wäre Wasser nicht durch ein Leck in der Lamelle, sondern unter der Schlitzwand hindurch in die Baugrube vor dem Archivgebäude eingedrungen. Das würde auf Defizite bei der Bauplanung statt bei der Bauausführung hindeuten.
Großer Zeitdruck
Wer trägt Schuld? Hätte sich der Einsturz verhindern lassen? Damit muss sich jetzt das Landgericht Köln beschäftigen. Wie beim Prozess zur Loveparade-Katastrophe ist auch dieses Verfahren äußerst komplex, der Zeitdruck ist groß. 126 Verhandlungstage sind angesetzt. Fällt bis zum 2. März 2019 kein Urteil, droht Verjährung.
Der Weg bis zu Anklage und Hauptverhandlung war lang, die Beweissicherung umständlich. An der Einsturzstelle wurde ein Schacht gegraben. So wurde es für Taucher möglich, in fast 30 Meter Tiefe die fragliche Wand zu untersuchen. Der Strafprozess ist nur ein Teil der juristischen Aufarbeitung. Die Stadt Köln schätzt den Schaden, der durch den Einsturz entstanden ist, auf 1,2 Milliarden Euro. Wer dafür haftet, muss ein Zivilprozess klären. Doch der ist noch nicht in Sicht. Das dafür nötige Gutachten ist noch in Arbeit und wird voraussichtlich erst 2020 vorliegen.
Rettung der Archivalien
Unterdessen geht die Restaurierung der Archivgüter weiter. Gut 95 Prozent sind geborgen. Sie müssen jetzt in mühsamer Handarbeit gesäubert und wiederhergestellt werden. Beim Zusammensetzen von Schnipseln hilft die Software, die auch bei den Stasi-Unterlagen zum Einsatz kommt. Als die Restauratorin Nadine Thiel das einstürzende Stadtarchiv sah, war der erste Gedanke zunächst: Hoffentlich ist niemand zu Schaden gekommen. Noch am selben Tag befasste sie sich mit den wertvollen Schriften und Urkunden, die da unter den Trümmern lagen: "Hatte ich Archivmaterial morgens noch mit weißen Baumwoll-Handschuhen angefasst, musste ich nachmittags überlegen, wie kann das jetzt geborgen werden, ohne weiteren Schaden zu nehmen." Nadine Thiel leitet jetzt ein großes Team, das sich um die Aufarbeitung kümmert. Eine Aufgabe, die noch 30 Jahre dauern könnte.