Pflegenotstand "Corona-Krise macht Probleme sichtbarer"
120.000 zusätzliche Vollzeitstellen fehlen in Pflegeheimen, sagt Gesundheitsexperte Rothgang im Interview mit tagesschau.de. Nötig seien Milliardeninvestitionen. Doch es gehe nicht nur ums Geld.
tagesschau.de: Hat die Corona-Krise Probleme im Pflegebereich sichtbarer gemacht?
Heinz Rothgang: Das kann man so sagen. Die Probleme der Pflegebranche waren den Eingeweihten auch vorher bekannt. Aber für die Öffentlichkeit sind Engpässe deutlicher geworden. Wir sehen wie jetzt die Zahl der Intensivpatienten in den Krankenhäusern ansteigt und dabei sichtbar wird: Wir haben womöglich zwar genügend Betten und Beatmungsgeräte, aber wir können die Betten nicht "bepflegen".
Prof. Heinz Rothgang leitet die Abteilung "Gesundheit, Pflege und Alterssicherung" am SOCIUM Forschungszentrum zu Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Im Auftrag der Pflegekassen, Sozialhilfeträger und Berufsverbände erstellte der Gesundheitsökonom ein Instrument zur Errechnung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen.
tagesschau.de: Und wie sieht es in den Pflegeheimen und in der ambulanten Pflege aus?
Rothgang: Auch da sind die Effekte gravierend. Eine Umfrage von uns während der ersten Welle ergab Personalausfälle von durchschnittliche fünf bis zehn Prozent in Pflegeheimen durch Quarantäne, Isolation und Kinderbetreuung. Gleichzeitig sind Angehörige und Ehrenamtliche nicht mehr rein gekommen - es ist also Mehrarbeit entstanden - auch durch die Umsetzung der Hygienekonzepte. Da hat es ganz schön geknirscht.
"Der Markt ist komplett leer gefegt"
tagesschau.de: Das heißt, die Corona-Krise hat den ohnehin vorhandenen Personalmangel in der Pflegebranche noch weiter verschärft.
Rothgang: Wenn wir von Pflegenotstand sprechen, wird zweierlei oft durcheinandergebracht. Im engeren Sinne bedeutet er, dass einerseits vorhandene Stellen nicht besetzt werden können. Im Pflegeheimbereich haben wir fünf offene Stellen für Fachkräfte auf jeden Bewerber. Der Markt ist komplett leer gefegt. Die andere Hälfte des Notstands ist aber, dass es Pflegebereich viel zu wenig Stellen gibt.
tagesschau.de: Sie haben im Auftrag des Gesetzgebers ein Instrument zur Personalbemessung in der Pflege entwickelt - was kam dabei heraus?
Rothgang: Dass wir gut ein Drittel mehr Pflegekräfte in Pflegeheimen brauchen, um die Voraussetzungen für fachgerechte Pflege zu haben. Wir haben Pflegekräfte minutiös bei der Arbeit beobachtet und dabei mit den Kostenträgern und den Anbietern eng zusammengearbeitet - unsere Ergebnisse, haben daher eine große Legitimation.
tagesschau.de: Ein Drittel an Stellen fehlt laut Ihrer Analyse - Was bedeutet das in konkreten Zahlen?
Rothgang: Wir bräuchten 120.000 zusätzliche neue Vollzeitstellen. Bei den Teilzeitquoten, die wir im Pflegebereich haben, wären das über 200.000 Köpfe. Das ist die Dimension, über die wir reden. Dazu kommt dann noch, dass viele Stellen auch jetzt schon nicht besetzt sind. Da sprechen wir schon von 20.000 bis 30.000 offenen Positionen.
"Das wird ein mehrjähriger Prozess"
tagesschau.de: Allein 20.000 mehr Stellen führen hochgerechnet schon zu knapp einer Milliarde Mehrkosten, das heißt wir reden bei den von Ihnen errechneten zusätzlich nötigen 120.000 Stellen über vier bis fünf Milliarden Euro?
Rothgang: Das kommt in etwa hin. Allerdings ist das natürlich von heute auf morgen nicht vollständig umsetzbar, weil sich die Heime dazu organisatorisch verändern müssen, zusätzliche Ausbildungskapazitäten aufgebaut werden müssen und das Personal noch gar nicht vorhanden ist. Wir rechnen mit einer Umsetzung in einem mehrjährigen Prozess. Insofern fallen die Kosten nicht auf einen Schlag an.
tagesschau.de: Wie weit ist die Politik mit der Umsetzung?
Rothgang: Das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz liegt ja als Gesetzentwurf vor, kommende Woche ist dazu die Anhörung im Gesundheitsausschuss. Hier werden erste Ergebnisse unseres Verfahrens umgesetzt - es sind 20.000 zusätzliche Stellen im Pflegebereich vorgesehen. Weitere Schritte müssen folgen.
tagesschau.de: Wer soll das alles finanzieren?
Rothgang: Das muss kombiniert werden mit einer Finanzreform in der Langzeitpflege. Die Finanzierung ist im Moment so geregelt, dass die Pflegeversicherung einen festen Betrag gibt - und alles darüber hinaus zahlt der Heimbewohner selbst, der jetzt schon zu stark belastet ist - im Durchschnitt mit mehr als 2000 Euro. Die zusätzlichen fünf Milliarden kann man nicht noch obendrauf auf die Heimbewohner umlegen.
tagesschau.de: Der Gesundheitsminister arbeitet dazu gerade an Eckpunkten - reichen die aus?
Rothgang: Die gehen in die richtige Richtung. Leider fehlen die nächsten Schritte zur Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens. Aber Jens Spahn macht einen großen Schritt, indem er die Finanzierung vom Kopf auf die Füße stellt, indem er sagt, der Eigenanteil wird festgelegt und was darüber hinaus geht, zahlen die Versicherungen. Also auch Kosten für mehr Personal.
Mehr Gehalt allein - wird nicht reichen
tagesschau.de: Es geht ja darum, die Pflegequalität zu verbessern aber auch Pflegeberufe attraktiver zu gestalten. Inwieweit wacht die Politik auf, was die bessere Bezahlung von Pflegekräften angeht, die schon lange gefordert wird.
Rothgang: Bei der Bezahlung liegt eine Differenz von 500 bis 600 Euro in der Bezahlung zwischen Krankenhaus und Pflegeheim. Insbesondere in der Altenpflege muss nachgelegt werden, was die Bezahlung angeht. Sie liegt deutlich unter dem, was in anderen Branchen gezahlt wird. Aber verbessern müssen sich auch die Arbeitsbedingungen.
tagesschau.de: Was meinen Sie da konkret?
Rothgang: Menschen verlassen die Jobs, so hören wir immer wieder, weil durch die Unterbesetzung zu wenig Kollegen in der Schicht sind. Sie fühlen sich allein gelassen - und müssen oft an freien Wochenenden bei Engpässen einspringen. Wenn man mehr Personalkapazität schafft, dann wird auch der Beruf gleich viel attraktiver.
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de